Vor Corona-Gipfel Ein erster Fahrplan – und viele Richtungen
2. März 2021Stand: 02.03.2021 13:33 Uhr
Selten war die Ausgangslage vor einem Corona-Gipfel so diffus wie jetzt. Der Wunsch nach Lockerungen scheint übermächtig, der Druck auf die Politik ist enorm. Wie könnte ein Fahrplan aus dem Lockdown aussehen – und wer will was?
Geschäfte und Restaurants zuerst. Schulen und Kitas zuerst. Weg von den starren Inzidenzwerten. Ein Stufenplan. Vorsichtig lockern. Alles zu lassen. Mehr testen. Alle impfen ohne Priorisierung. Selten war die Ausgangslage vor einem Corona-Gipfel so diffus wie jetzt. Und politische Entscheidungen so schwierig. Nach einem Jahr Pandemie ist da einerseits die große Sehnsucht nach mehr Normalität, andererseits aber lassen die Infektionszahlen Lockerungen des Lockdowns eigentlich nicht zu. Große Hoffnungen ruhen auf Schnelltests, sie könnten der Weg zu mehr Freiheiten sein. Wenn es denn mal ein Konzept gibt.
Die Ausgangslage
Die Infektionszahlen steigen leicht, aber stetig. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bundesweit bei rund 65 – und damit weit entfernt von Werten, ab denen nächste Öffnungsschritte möglich sein sollen. Verantwortlich für die steigenden Zahlen machen Wissenschaftler die ansteckendere Virus-Mutation B.1.1.7, die sich von Großbritannien aus verbreitet hat. Für die erste Aprilhälfte gelten bereits Werte um 200 als möglich.
Dennoch: Kitas und Grundschulen sind vielerorts seit einer Woche geöffnet, auch die Friseure haben bundesweit wieder offen. Und je nach Land auch Gartenmärkte, Blumenläden, Fußpflegestudios und mehr. Die Auswirkungen der Schul- und Kitaöffnung dürften erst in etwa zwei Wochen absehbar sein, die der anderen Öffnungen noch später.
Wie kann ein Fahrplan aus dem Lockdown aussehen?
Es gehört inzwischen zur guten Tradition vor Bund-Länder-Corona-Gipfeln, dass verschiedene Beschlussvorlagen kursieren. So auch diesmal. Ein Papier, das auch dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, skizziert eine teilweise Lockerung der Kontaktbeschränkungen und eine schrittweise Öffnung verschiedener Bereiche wie Handel, Kultur und Sport zu. Wo es keine Ausnahmen gebe, sollten die Lockdown-Beschränkungen aber bis zum 28. März verlängert werden. Ab dem 8. März sollen aber auf jeden Fall wieder mehr Kontakte möglich sein – von bis zu fünf Personen aus zwei Haushalten ist die Rede. Und: Über Ostern könnten – ähnlich wie an Weihnachten – wieder Verwandtenbesuche in einem etwas größeren Kreis möglich sein.
Begleitet werden soll dieser Stufenplan durch eine starke Ausweitung der Impfkampagne und der Testkapazitäten. Man wolle „erproben“, ob durch die deutliche Ausweitung von Tests in Verbindung mit einer besseren Nachvollziehbarkeit der Kontakte im Falle einer Infektion Öffnungsschritte auch bei höheren Sieben-Tage-Inzidenzen mit mehr als 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner möglich würden, heißt es in dem Entwurf weiter. Allen würden ein oder zwei kostenlose Schnelltests pro Woche angeboten. Als weitere Öffnungsschritte werden zunächst Teile des Einzelhandels und Fahrschulen genannt.
Dies ist jedoch lediglich ein erster Beschlussentwurf. Weitere werden folgen. Entschieden wird dann morgen. Bund und Länder wollen sich ab 14 Uhr zusammenschalten. Es könnte mal wieder länger dauern.
Wer will weiter lockern?
Die Wirtschaft macht Druck. Dazu gehören der Einzelhandelsverband, der Hotel- und Gaststättenverband, die Mittelstandslobby in der Union. Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der aufgrund seiner Corona-Politik seit Wochen in der Defensive ist, legte nun ein Öffnungskonzept vor und machte Hoffnung auf Biergartenbesuche zu Ostern. Aber auch aus den Bundesländern kommen Rufe nach vorsichtigen Lockerungen, etwa aus Sachsen-Anhalt, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz. Eher zweideutig sind die Signale aus Bayern.
Wer will vorsichtig bleiben?
Vor allem Ärzteverbände warnen vor voreiligen und unkoordinierten Lockerungen. Öffnungen sollten nur in Verbindung mit einer gezielten Test- und Nachverfolgungsstrategie erfolgen, sagen etwa die Amtsärzte. Auch der Marburger Bund mahnte, langsam und nur stufenweise zu öffnen. Unter den Ministerpräsidenten gehören Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher und Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans zu den Mahnern. Auch sein sächsischer Amtskollege Michael Kretschmer sieht Lockerungen skeptisch. Der Städte- und Gemeindebund plädierte jüngst für eine „Corona-Notbremse“, damit Öffnungen notfalls auch wieder rückgängig gemacht werden könnten.
Und Kanzlerin Merkel?
Das Kanzleramt fährt seit Beginn der Pandemie bekanntlich eine vorsichtige Linie. Schon im April vergangenen Jahres warnte sie vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ – allerdings ohne viel Erfolg. In der Runde der 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten gelang es ihr bislang nie, bundeseinheitliche Regelungen durchzusetzen. Alleingänge der Länder waren zuletzt anschließend eher die Regel als die Ausnahme. Inzwischen sprach sich auch Merkel dafür aus, vorsichtig Strategien für weitere mögliche Öffnungen zu erarbeiten. Drei Bereiche nahm sie in den Blick: Persönliche Kontakte, Schulen und Berufsschulen sowie als dritten Bereich Sportgruppen, Restaurants und Kultur. Lockerungen – trotz weiterhin zu hoher Inzidenzwerte – knüpft das Kanzleramt aber an eine durchdachte Teststrategie. Das bezieht sich auf Schnelltests und Selbsttests.
Wie schon beim Impfen hinkt Deutschland auch beim Testen hinterher. Das hat unterschiedliche Gründe, aber keiner davon lässt Gesundheitsminister Jens Spahn dabei besonders gut aussehen. Aber jetzt im März soll es es losgehen.
Alle Bürgerinnen und Bürger sollen in Testzentren, Apotheken oder Praxen laut Konzept des Bundesgesundheitsministeriums zweimal wöchentlich kostenlos einen Antigen-Schnelltest machen lassen können – ab einem Tag im März, der noch nicht feststeht. Getestete bekommen das Ergebnis schriftlich. Die Tests sollen helfen, Infektionen zu stoppen und das Virus einzudämmen. Die Nachweise sind laut Konzept auch „denkbar als Voraussetzung zum Betreten bestimmter Einrichtungen“. Dazu kommen Selbsttests, die man kaufen kann. Eine erste Drogeriemarktkette nennt den 9. März als Verkaufsstart.
Folgt man dem Papier aus dem Ressort von Minister Spahn, sollen auch Schulen sie für Schülerinnen und Schüler und Unternehmen für ihre Beschäftigten bereitstellen. Selbsttests unter Aufsicht von Veranstaltern könnten auch Voraussetzung für das Betreten von Restaurants, Theatern oder Kinos werden.
Was ist der Unterschied zwischen Schnelltest und Selbsttest?
Bei Schnelltests führt geschultes Personal das Wattestäbchen tief in Rachen und Nase. Bei Selbsttest heißt es in der Anleitung eines von bisher drei zugelassenen Produkten: „Führen Sie die saugfähige Spitze des Tupfers vorsichtig in Ihr linkes Nasenloch ein. Stellen Sie sicher, dass sich die gesamte Tupferspitze in Ihrem Nasenloch befindet (2 – 4 cm tief). Führen Sie den Tupfer nicht weiter ein, wenn Sie einen Widerstand spüren. Rollen Sie den Tupfer mindestens fünf Mal gegen die Innenseiten Ihres Nasenlochs.“ Dauer bis zum Ergebnis: 15 Minuten. Die Virologin Sandra Ciesek meint: „Einen Abstrich aus der vorderen Nase bekommt jeder hin.“
Der Wattetupfer könnte im Frühjahr für viele Menschen also zu einem Pflichtutensil im Alltag werden.
Begleitet werden sollen mögliche Lockerungen durch eine starke Ausweitung der Impfkampagne. Bislang verläuft sie schleppend. Mehr als zwei Monate nach Beginn der Impfungen gegen das Coronavirus haben rund fünf Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis erhalten. Den Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) zufolge wurden bislang etwa 6,4 Millionen Dosen des Impfstoffs verabreicht. Davon haben rund 4,2 Millionen Menschen eine Erstimpfung und fast 2,2 Millionen bereits die Zweitimpfung bekommen. Zum zweiten Mal wurden im Bundesdurchschnitt bisher 2,6 Prozent der Einwohner geimpft.
Bei den meisten Geimpften handelt es sich laut RKI-Statistik um alte Menschen, Personal in Krankenhäusern und Altenheimen sowie Pflegeheimbewohner, also um Menschen aus der höchsten Prioritätsgruppe. Die neue Impfstrategie der Bundesregierung ermöglicht nun, dass Kita-Personal und Grundschullehrer bevorzugt geimpft werden.
Mehrere Bundesländer rütteln auch an der Impfpriorisierung. Mit Blick auf überschüssigen Impfstoff von AstraZeneca schlugen Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und sein baden-württembergischer Kollege Winfried Kretschmann vor, diesen Impfstoff für alle Bürger freizugeben. Bevor er liegenbleibe, weil Teile der Bevölkerung ihn ablehnten, müsse die Priorisierung aufgegeben werden. Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach forderte, AstraZeneca sofort für alle Menschen unter 65 in den drei Prioritätengruppe zur Verfügung zu stellen. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums lehnte Änderungen bei der Impfreihenfolge ab.
Der Corona-Impfstoff von AstraZeneca stößt in Deutschland auf Akzeptanzprobleme. Die Ständige Impfkommission (STIKO) hatte bisher empfohlen, das Mittel nur für Menschen unter 65 Jahren zu verabreichen. Inzwischen will die STIKO ihre Empfehlung aber ändern.