„Lehnt sich weit aus dem Fenster“: Merkels Impfabstands-Plan verwundert Virologen

„Lehnt sich weit aus dem Fenster“: Merkels Impfabstands-Plan verwundert Virologen

4. März 2021 Aus Von mvp-web

16:26:40

Der Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfung soll auf ein Maximum ausgedehnt werden – sowohl bei Biontech als auch bei Astrazeneca. So will Bundeskanzlerin Angela Merkel in kurzer Zeit mehr Menschen immunisieren. Virologe Martin Stürmer sieht das kritisch.

In der Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch beschlossen Bund und Länder nicht nur weitere Öffnungsschritte. Kanzlerin Angela Merkel erklärte außerdem, künftig den zeitlichen Abstand zwischen der ersten und zweiten Covid-Impfung zu vergrößern. FOCUS Online hat bei Virologe Martin Stürmer nachgefragt, was er von diesem Vorhaben hält.

Abstand zwischen Impfungen wird auf Maximum ausgereizt

„Wir haben heute lange darüber gesprochen, wie wir das Impfen deutlich forcieren können“, sagte Merkel in einer Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Gipfel. „Und wie wir es so organisieren können, dass die Zahl der Erstimpfungen maximal ausgeschöpft wird.“ Dafür wolle die Regierung „alle Flexibilitäten nutzen“, man wisse, dass man „hier in einem Wettlauf gegen die Zeit“ sei.

„Der Abstand zwischen der ersten und der zweiten Impfung bei Biontech und Astrazeneca soll maximal ausgenutzt werden.“ Das heißt, eine Zweitimpfung erfolgt immer erst zum Ende der Genehmigungsphase. Beim Biontech/Pfizer-Vakzin bedeutet das eine Zweitimpfung nach 42 Tagen, bei Astrazeneca nach zwölf Wochen.

Eine Computer-Simulation, an der unter anderem SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und RKI-Physiker Dirk Brockmann beteiligt waren, zeigt, dass mehr Todesfälle verhindert würden, wenn man die zweite Impfdosis hinauszögere. Lauterbach sprach sich demnach ebenfalls dafür aus, den Abstand zu erweitern. In Großbritannien werden bereits jetzt nicht nur die Astrazeneca-Pikser, sondern auch die Dosen der mRNA-Impfstoffe in einem Abstand von zwölf Wochen verabreicht. Das geht allerdings über den durch die bisherigen Studien untersuchten Rahmen hinaus und ist damit ein sogenannter Off-Label-Use des Impfstoffs.

Das britische Modell würde Lauterbach hingegen nicht in Deutschland umsetzen wollen. Darüber könne man vielleicht nachdenken, wenn sich die Lage noch stärker als erwartet zuspitze, sagte der Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Vorerst empfehle er, den vorgegebenen Zeitraum einfach voll auszureizen.

Die Simulation habe dafür zwei verschiedene Szenarien durchgespielt. „Im Fall einer mittelschweren dritten Welle könnte das Hinausschieben der zweiten Impfdosis etwa 8000 Todesfälle verhindern, bei einer schweren Welle bis zu 14.000 Todesfälle“, erklärte der SPD-Gesundheitsexperte.

„Dadurch können wir schneller mehr Menschen erstimpfen“, erklärte Kanzlerin Merkel das Vorhaben in der Pressekonferenz. „Das wird auch von der Ständigen Impfkommission empfohlen“, betonte sie anschließend.

Astrazeneca erzielt beste Wirkung nach zwölf Wochen

„Ja, das Ganze bewegt sich im Rahmen der Zulassung“, räumt Virologe Martin Stürmer auf Nachfrage von FOCUS Online ein. „Aber ich sehe dieses Vorhaben dennoch sehr kritisch – zumindest beim mRNA-Impfstoff von Biontech.“

Den Abstand der Astrazeneca-Impfungen auszudehnen, hält Stürmer für gerechtfertigt. „Das haben auch die klinischen Studien gezeigt, den besten Effekt erzielt das Vakzin bei einem Abstand von zwölf Wochen.“ Diesen Abstand einzuhalten, empfehle er demnach jedem, der sich mit Astrazeneca impfen lasse.

Für Ausdehnung bei Biontech-Impfungen fehlen Daten

Kritisch sieht Stürmer die Erweiterung hingegen beim mRNA-Vakzin von Biontech. „Wir haben die Empfehlung, uns möglichst an die Studiendaten zu halten. Und diese sind mit einem Abstand von 21 Tagen angegeben worden. Dort liegt das Optimum der Impfwirkung und diese Daten wurden größtenteils miteinbezogen, um die Schutzwirkung zu bestimmen.“

Die Randdaten, also Daten bei einem Abstand von 42 Tagen, machten hingegen nur einen kleinen Teil der Studiendaten aus. „Der Großteil der Patienten wurde in einem Drei-Wochen-Rhythmus geimpft. Da lehnt sich Frau Merkel ziemlich weit aus dem Fenster, wenn sie diesen Abstand nun einfach verdoppelt.“

Warum der Abstand bei mRNA-Impfungen (vorerst) nicht erweitert werden sollte

Selbst das Robert-Koch-Institut, dem die Ständige Impfkommission (Stiko) zugehörig ist, räumt auf seiner Website ein: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es unsicher, ob man durch eine Verschiebung der zweiten Impfstoffdosis von 3 (Biontech) bzw. 4 (Moderna) Wochen auf einen späteren Zeitpunkt und eine damit einhergehende Erhöhung der Anzahl der zumindest einmalig Geimpften tatsächlich mehr schwere Erkrankungen und Todesfälle verhindert als durch eine zeitnahe zweite Impfung der Hochrisikogruppen, welche dann zu einem nahezu vollständigen Schutz vor Erkrankung führt.“

Diese Aussage geht auf den Stand vom 29.01.2021 zurück und bezieht demnach zwar die Computer-Simulation von Lauterbach und Brockmann noch nicht mit ein. Es gibt aber noch weitere Gründe, die laut RKI dagegensprechen, den Abstand bei mRNA-Impfungen zu erweitern:

1. Mehrheit der Studienteilnehmer war unter 75

Zwar hätten die Zulassungsdaten Impfeffektivitäten von über 90 Prozent ab 14 Tagen nach der ersten Dosis ermittelt. In den Studien sei aber die große Mehrheit der eingeschlossenen Teilnehmer jünger als 75 Jahre alt gewesen. „Da die aktuelle Impfstrategie besonders auf über 80-Jährige ausgerichtet ist und im hohen Alter Immunantworten auf Impfungen in der Regel geringer ausfallen als bei Jüngeren, sind die berechneten Impfeffektivitätswerte nach einer Dosis nur bedingt aussagekräftig“, schreibt das RKI.

2. Antikörperantwort ist nach erster Dosis niedriger

Außerdem fielen die Antikörperantworten nach der ersten Impfstoffdosis um den Faktor zehn bis 20 niedriger aus als nach der zweiten. „Es ist zu vermuten, dass ein Rückgang der Antikörper bei deutlich niedrigerem Ausgangsniveau nach der ersten Impfung schneller zu einem abnehmenden Schutz führt als nach zwei Impfungen und der Schutz somit weniger lang anhält“, schreibt das Institut weiter.

3. Schwächere Immunantwort kann infektionsverstärkende Antikörper hervorrufen

Ein weiterer Grund, den zeitlichen Abstand nicht zu erweitern: „Eine schwächere Immunantwort nach nur einer Impfung könnte bei späterer Antigenexposition möglicherweise zu einer Verschiebung zwischen neutralisierenden und nicht-neutralisierenden Antikörpern führen und damit im ungünstigsten Fall zu einem Überwiegen infektionsverstärkender Antikörper führen, wie es für einzelne andere respiratorische Virusinfektionen beschrieben worden ist.“

4. Teilimmunität könnte Escape-Mutationen fördern

Zudem sei von anderen Virussystemen bekannt, dass die Teilimmunität, die weitere Virusvermehrung zulasse und unter Umständen rascher zur Selektion von sogenannten „immune escape-Mutanten“ führen kann. „Dies ist für Sars-CoV-2 bisher nicht gezeigt worden, muss aber bei diesen Überlegungen berücksichtigt werden“, erklärt das RKI.