Corona-Verlauf modelliertInzidenz bald über 100? Köln zeigt, wie verheerend Mutationen Deutschland treffen können

5. März 2021 Aus Von mvp-web

18:44:34

In Köln untersuchen Labore anders als in vielen anderen deutschen Regionen jeden positiven Corona-Test auf Mutationen. Die Daten helfen, die Entwicklung des Infektionsgeschehens in der Stadt vorherzusagen – und zeigen, was bei einer weiteren Verbreitung der Varianten ganz Deutschland droht.

Ist hierzulande die Rede von einer dritten Welle, geht es sehr schnell um das Thema „Mutationen“. Die Virusvarianten von Sars-CoV-2 gelten als ansteckender und somit als mögliche Treiber eines erneuten Anstiegs der Infektionsfälle.

Landesweit gilt die Vorgabe, je nach Inzidenz fünf bis zehn Prozent der positiven Tests auf Mutationen zu untersuchen. So wollen sich Experten ein Bild über deren Anteil in Deutschland machen und das kommende Infektionsgeschehen beurteilen.

In der Stadt Köln wird bereits seit dem 21. Januar jede einzelne positive Probe genomsequenziert. Weil die viertgrößte Stadt Deutschlands seitdem jeden positiven PCR-Test genau unter die Lupe nimmt, lässt sich die weitere Entwicklung der Infektionszahlen hier also zumindest gesicherter voraussagen als etwa in anderen Teilen der Republik. Hier werden die Zahlen lediglich auf Basis der fünf bis zehn Prozent untersuchten Proben hochgerechnet. Bislang ist nicht eindeutig geklärt, um wie viel Prozent ansteckender die neuen Varianten wie B.1.1.7 sind und wie stark sie das Infektionsgeschehen in die Höhe treiben.

Köln analysiert jeden PCR-Test auf Mutationen

Die Daten aus Köln sind spannend, um Rückschlüsse auf den Variantenanteil und damit die Entwicklung des Infektionsgeschehens in Deutschland zu ziehen. Stand Freitag haben sich in Köln 34.327 Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert. Aktiv sind davon 1240 Fälle. Im Augenblick befinden sich dort 174 Personen in stationärer Behandlung, die Stadt musste seit Beginn der Pandemie 538 Todesfälle verzeichnen. Die aktuelle Inzidenz liegt bei 74,6. Damit stieg der 7-Tage-Wert im Vergleich zum Vortag an, am Donnerstag lag der Wert bei 72. Den Höchstwert erzielte die Stadt in diesem Jahr am 11. Januar mit einer Inzidenz von 117,9.

Mit ihrer flächendeckenden Genomsequenzierung geht die Stadt über den Beschluss des Bundeskabinetts vom Januar geht die Stadt weit hinaus. Auch das Bundesland Baden-Württemberg untersucht seit Ende Januar landesweit alle PCR-Tests auf Mutationen. Köln startete damit bereits eine Woche früher, am 21. Januar.

Laut Berichten soll sich Florian Klein, Direktor des Instituts für Virologie der Uniklinik Köln, selbst an die Stadtverwaltung gewandt haben. Er habe angeboten, entsprechende Tests in den Laboren der Uniklinik unmittelbar durchzuführen. Auch private Labore stimmten daraufhin zu, sich an der neuen Teststrategie zu beteiligen.

Der „Welt“ sagte der Virologe: „Die neu auftretenden Virusvarianten stellen uns vor weitere Herausforderungen in der Pandemie, und ihre Ausbreitung muss so gut wie möglich verhindert beziehungsweise verlangsamt werden. Im Labor können wir die Varianten innerhalb kurzer Zeit erkennen und so die Information zur Verfügung stellen. Die Kolleginnen und Kollegen vom Gesundheitsamt können dadurch schnell reagieren und Infektionsketten unterbrechen.“

Modellierung: Inzidenz in Köln bald wieder über 100?

Aufgrund dieser Datenbasis, welche das Karlsruher Forschungsinstitut „Risklayer“ aufbereitet hatte, prognostizierte Phsysiker Cornelius Römer, Physiker, die Verbreitung des Virus in den kommenden Wochen. Seine Modellierung stellte der Data Scientist und Software Entwickler auf Twitter vor. Dabei geht er für die Mutanten von einem R-Wert von 1,18 aus, die Inzidenz der Mutanten liegt laut dem Physiker am Mittwoch bei 29. Damit machen die Mutationen am Mittwoch von einer Gesamtinzidenz von 77,6 einen Anteil von 37 Prozent aus, Tendenz stark steigend.

Insgesamt wurden in Köln bis 4. März 944 Fälle Fälle der mutierten britischen Coronavirus-Variante und 197 Fälle der südafrikanischen Variante nachgewiesen. „Die Mutante wird die Infektionslage in Köln übernehmen“, erklärte Oberbürgermeisterin Henriette Reker am Freitag.

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Die Grafik zeigt, dass die Infektionen durch den Wildtyp, also das ursprüngliche Sars-CoV-2-Virus, zurückgehen. Stattdessen steigt der Anteil der Mutationen deutlich an. Das führt dazu, dass die Infektionen auch insgesamt wieder deutlich ansteigen. Nach dieser Modellierung könnte die Inzidenz in Köln noch vor April die 100er-Marke überschreiten.

Additiver Effekt sorgt für Infektionsanstieg

Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer erklärte dieses Phänomen im Gespräch mit FOCUS Online bereits als den „additiven, beziehungsweise subtraktiven Effekt“. Denn wenn man sich die Infektionen durch die alte Variante unabhängig von denen durch die neue Variante ansieht, ergibt sich folgendes Bild:

  • Der Anteil der „alten“ Infektionen sinkt nach und nach. Hier funktionieren die Lockdown-Maßnahmen, die Zahlen sinken.
  • Der Anteil der „neuen“ Infektionen steigt aber stattdessen. Die Mutationen sind ansteckender, je mehr davon vorkommen, umso wahrscheinlich sind größere Ausbrüche. Hier scheinen die Maßnahmen nicht auszureichen.
  • Nach und nach heben sich diese Kurven gegenseitig auf und steuern auf ein „Plateau“ zu. Es entsteht eine Nullsumme.

Die große Gefahr, die damit einhergeht: Die Nullsumme könnte zu einer Plussumme werden. Heißt: Der Anteil der Mutationen steigt weiter so stark an, dass er die sinkenden Ursprungsinfektionen einholt. Die Folge: Die Fallzahlen steigen insgesamt wieder an. Dann ist der erneute Corona-Wendepunkt und die Umkehr des bislang noch positiven Trends erreicht. Eine dritte Welle beginnt; genau die droht nicht nur Köln, sondern auch dem Rest Deutschlands.

Laut Römer sind daran allerdings nicht nur die Mutanten Schuld. „Die Fallzahlen steigen jetzt den zweiten Tag in Folge stark, deutlich mehr als man alleinig durch den Mutanten-Effekt erwarten würde“, schreibt er am Mittwoch.

Der Datenspezialist vermutet, dass die Lockerungen dazu beitragen, die Fallzahlen in die Höhe zu treiben. In Köln wurden Anfang der vorigen Woche wie im Rest Deutschlands erste Schulen und Kitas geöffnet. Künftig werden mit dem von der Bundesregierung verfassten Öffnungsplan weitere Lockerungen folgen.

Inzidenz in Deutschland könnte schon in den nächsten Wochen wieder über 100 liegen

Römers Modellierung zeigt, dass der Anteil an Mutationen in Köln schon in den kommenden Tagen auf mehr als 50 Prozent ansteigen könnte. Für Deutschland prognostiziert der Datenspezialist ebenfalls die Inzidenzentwicklung. Hierbei geht er bereits jetzt von einem Anteil von über 50 Prozent der britischen Virusvariante B.1.1.7 an der Gesamtzahl der Infektionen aus.

Die „grobe Modellierung der Inzidenzentwicklung in Deutschland zeigt, dass die Schwelle von 100 vermutlich in 1-3 Wochen überschritten wird“, so der Physiker am Donnerstag auf Twitter. „Anfang April sind Werte über 200 möglich.“ Sein Modell berücksichtigt neben Mutationen und Lockerungen auch Saisonalität und Impfungen.

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Virologe warnt vor dritter Welle

Auch Virologe Martin Stürmer warnte im Gespräch mit FOCUS Online bereits vor einem erneuten Infektionsanstieg. In seinem Frankfurter Labor für interdisziplinäre Medizin und Diagnostik beobachtet er ebenfalls steigende Anteile der Mutationen.

„Wir befinden uns im Augenblick keineswegs in einer Pandemiephase der Entspannung. Sondern in einer Phase, in der die Infektionen stagnieren, in Teilen sogar wieder ansteigen“, wird Stürmer deutlich. „Wir schaffen es ja schon mit den gegenwärtigen Maßnahmen nicht, die Zahlen zu drücken. Damit erreichen wir gerade mal eine Art Stillstand. Wenn wir jetzt noch weiter lockern, dann liefern wir einen idealen Nährboden für einen erneuten Infektionsanstieg.“

Stürmer sieht demnach auch die von Bund und Länder in Aussicht gestellten Lockerungen kritisch. „Noch bewegen wir uns auf sehr dünnem Eis. Noch immer besteht die Gefahr einer dritten Welle. Die Corona-Varianten nehmen zu, ein erneuter Anstieg ist keineswegs ausgeschlossen.“

Für die Osterfeiertage lautet sein Appell ganz klar: nichts riskieren. „Wir sollten auf keinen Fall die gleichen Fehler machen wie an Weihnachten. Bloß nicht wieder mehr ermöglichen.“

Sein Wunsch: „Lassen wir Ostern Ostern sein – und schauen wir erst einmal, wie sich die Situation entwickelt.“ Wer an den Ostertagen etwas unternehmen, vielleicht sogar verreisen wolle, solle das regional und individuell tun. „Vielleicht lieber in der Familie und im kleinen Kreis Ausflüge planen – und dabei große Sammelstellen meiden.“