Strafanzeige statt Anerkennung – Mediziner Stöcker und sein Antigen in der Kritik: Das steckt dahinter
7. März 202116:12:17
Medien berichten seit einigen Tagen über ein vermeintliches Antigen, das der Mediziner Winfried Stöcker entwickelt hat und angeblich immun gegen das Coronavirus machen soll. Statt Anerkennung in der Fachwelt handelte sich der Mediziner zwei Strafanzeigen ein. Was steckt dahinter?
Die Spiegel-TV-Reporterin folgt dem Mann in dem dunkelbraunen Jacket zum Kühlschrank seines Labors. Seine Mitarbeiterin im weißen Kittel und mit blauer OP-Maske holt ein Marmeladenglas heraus, in dem kleine Glasampullen stecken: „Also, da ist das Antigen drin. Kannst Du das mal ganz genau in die Kamera zeigen? Da unten, das weiße Pulver ist das Antigen.“ Die Spiegel-Reporterin behauptet in einer kurzen Zwischenmoderation: „Der Stoff in der unscheinbaren Ampulle könnte die Pandemie quasi pulverisieren.“ Dann darf der Professor wieder: „Damit können Sie innerhalb weniger Monate ganz Deutschland versorgen und dann wird das geimpft. Es gibt genügend Ärzte, sie brauchen keine Turnhallen zu mieten, Sie gehen zu Ihrem Hausarzt, lassen sich das verabreichen und sind nach zwei Monaten immun gegen die Seuche – alle.“
Während der Professor mit dem weißen Kinnbart noch weitere zwei Minuten die Vorzeige seines Antigens anpreist, das er in seinem eigenen Labor in Groß-Grönau entwickelt hat, steht die Mitarbeiterin stumm daneben und hält das Marmeladenglas. „100 Freiwillige hat er mit seinem neuen Wundermittel bereits geimpft“, sagt die Reporterin, ohne sich zu distanzieren. Auch Mitarbeiter und Freunde seien bereits geimpft und geschützt vor dem Virus. „Sie sind froh und glücklich. Und ich habe auch einen guten Stand in der Firma“, sagt Stöcker.
Seine Mitarbeiterin schaut während der Zeit stumm nach unten und nickt. Dann die Frage der Reporterin: „Sie nicken?“ Die junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz schaut zu ihrem Chef auf: „Ja.“
Reporterin: „Sind Sie auch geimpft?“
Blick zum Chef, dann die Antwort: „Ja, ich bin geimpft, ich bin immunisiert.“
Die Reporterin weiter: „Warum haben Sie das gemacht?“
Mitarbeiterin: „Na ja, weil die Situation das erfordert, und ich ihm vertraue (Blick zum Chef). Weil ich ihm vertrauen, weil ich davon überzeugt bin.“
Stöckers Antigen: Renommierte Virologen kommen nicht zu Wort
In dem Stil geht der Beitrag weiter. Zwischendurch bezeichnet die Reporterin Stöcker als „mutigen Mann“. Auf die Problematik der Zulassungspflicht eines Impfstoffes durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) geht sie nicht ein. Stattdessen führt sie als Kronzeugen für die Wirksamkeit die beiden Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité und Hendrick Streeck an. Stöcker legt der Reporterin Unterlagen vor, in denen er die beiden Virologen angeschrieben habe. „Ich habe Serum von mir hingeschickt und bei Untersuchungen hat man herausgefunden, dass der von mir gebildete Antikörper in der Lage ist, das Virus zu neutralisieren“, sagt Stöcker dem Spiegel. Im Beitrag heißt es, dass „renommierte Virologen“ die Wirkung des Antigens bestätigen. Gemeint sind Drosten und Streeck.
Drosten selbst kommt in dem Beitrag wie auch in vielen anderen Medienberichten über den vermeintlich sicheren Impfstoff nur indirekt zu Wort: Er habe darauf hingewiesen, dass es sich lediglich um einen „Neutralitätstest“ handele und die „Produktion eines Impfstoffes hohe Qualitätsansprüche erfüllen müssten“. Der Kontakt mit Drosten stammt nach Recherchen von FOCUS Online vom Mai 2020. Auch der Bonner Virologe Hendrick Streeck soll laut Spiegel-TV positive Bewertungen für das Antigen abgegeben haben. In welcher Hinsicht positiv, wird leider nirgendwo deutlich, und auch Streeck selbst kommt nicht zu Wort.
FOCUS Online hat versucht, mit Professor Drosten Kontakt aufzunehmen: Aus der Berliner Charité hieß es dazu heute Morgen: „Wir geben die Telefonnummern von Herrn Drosten nicht mehr heraus. Dazu war der Kontakt in den vergangenen Monaten zu stark, und dazu ist Herr Drosten auch zu sehr verunglimpft worden.“ Presseanfragen würden nicht beantwortet, hieß es. Auch den Bonner Virologen Hendrick Streeck bat FOCUS Online um eine Stellungnahme zu dem Antigen des Mediziners Stöcker, den der selbst einen „Totstoff“ nennt. Anders als die bereits zugelassenen mRNA-Impfstoffe wie BioNTech-Pfizer und Moderna handelt es sich bei dem vermeintlichen Wirkstoff um ein technisch hergestelltes Antigen.
„Gesundheit der Probanden könnte schwer gefährdet sein“
Überhaupt nicht überzeugt von dem Produkt sind offenbar das Paul-Ehrlich-Institut sowie die Landesanstalt für Soziale Dienste für Schleswig-Holstein. Beide erstatteten Strafanzeige gegen Winfried Stöcker, der sich von dem FDP-Politiker Wolfgang Kubicki anwaltlich vertreten lässt und im Netz und auf seinem Internet-Blog seine Erfindung anpreist: „Sie bewirkt bei 97 Prozent der Impflinge hohe Spiegel Virus-neutralisierender Antikörper und hat bei den ersten hundert Patienten keine relevanten Nebenwirkungen hervorgerufen.“
Das Paul-Ehrlich-Institut begründet seine Strafanzeige damit, dass „Eile geboten“ sei, „da nicht ausgeschlossen werden kann, dass weitere Herstellungen und Impfungen, die eventuell die Gesundheit der Probanden schwer gefährden können, durchgeführt werden.“ Auch das Paul-Ehrlich-Institut bat FOCUS Online um eine Stellungnahme, die noch nicht eingetroffen ist.
Was steckt hinter der Fassade?
Vorsicht ist hinsichtlich Stöcker allerdings auch aus anderen Gründen geboten. Auf seinem Internet-Blog hetzt der Gründer des vor vier Jahren für 1,2 Milliarden Euro verkauften Unternehmens EUROIMMUN Medizinische Labordiagnostika AG, das sich auf Infektionen spezialisiert hatte, gegen die Regierung und bekommt vor allem Beifall von der AfD, den er an mehreren Stellen zurückgibt, etwa bei der Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) mit den Stimmen der AfD. Er warnte in einem Interview vor einer „Islamisierung Deutschlands“ und bezeichnet schwarze Menschen mit dem N-Wort. Flüchtlinge wollte er „am liebsten zurück in ihre Heimat schicken“ und auch zur #MeToo-Bewegung hat er eine Meinung. Mädchen sollten „zurückhaltender gekleidet und weniger provozierend zum Casting gehen, dass die armen Regisseure auf dem Pfad der Tugend bleiben.“ Und in sein Kaufhaus in Görlitz, das der Arzt und Unternehmer betreibt, sollten nur Deutsche kommen. Die Lübecker Bürgerschaft hatte im Februar 2018 beschlossen, keine Spenden von Stöcker und seinem Unternehmen anzunehmen und ihn als Mitfinanzier der 875-Jahr-Feier Lübecks ausgeschlossen.
Mit dem Impfstoff hat die ethische und gesellschaftliche Haltung eines Mediziners zwar grundsätzlich nichts zu tun. Wenn jemand laut eigenem Blog „davon durchdrungen“ ist, „wo immer ich kann meinen Beitrag zur Beendigung bösartiger Gewalt und Ungerechtigkeit zu leisten“, darf sie und die Frage der generellen Seriösität jedoch thematisiert werden. Zumal dann, wenn ein selbst hergestellter Impfstoff, für den nach bisherigen Erkenntnissen noch nicht einmal eine Zulassung beantragt wurde, an 100 „Freiwilligen“ sowie an Familienmitgliedern und „Freunden“ verimpft wurde.