Falsche Zeit für ÖffnungenDer Stufenplan ist gescheitert – und jetzt bleibt nur noch die Corona-Notbremse
19. März 202115:07:43
Für eine hochansteckende Virusvariante kann niemand etwas. Doch Schulen und Baumärkte zu öffnen, während B.1.1.7 die Infektionszahlen hochtreibt, war leichtfertig. Experten sind sich einig: Ohne funktionierende Teststrategie und Impfkampagne kamen die Lockerungen viel zu früh.
Man muss wohl ein freudloser Einzelgänger und Stubenhocker sein, um dem Lockdown im fünften Monat noch etwas Schönes abzugewinnen. Alle anderen wollen nur noch raus – aus der Wohnung, aus dem Winter, aus dem Stillstand. Sie wollen reisen oder nur auf ein Bier in die Stammkneipe, sie wollen Familienfeste feiern, wo auch die Cousine dritten Grades dabei sein darf. Sie wollen Sport, Musik und Menschen live begegnen und Zoom einfach wieder nur als Kamerafunktion sehen.
Erschöpfung, Sehnsucht und Ungeduld der Menschen haben die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) Anfang März zu einem Schritt bewogen, der politisch verständlich, vielleicht sogar nötig war. Aus epidemiologischer Sicht kam er verfrüht und zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt: Im Kanzleramt einigte man sich auf einen Stufenplan für Lockerungen und setzten die erste Stufe zu einem Zeitpunkt um, als das Gekräusel einer entstehenden 3. Corona-Welle schon nicht mehr zu übersehen war.
Virologen sahen 3. Welle, Politiker sinkende Inzidenzen
Die Politik sah neben dem murrenden Volk vor allem, dass sich Inzidenzen, R-Wert und Sterbefälle auf den Intensivstationen nach unten bewegten, immer weniger tiefrote Hotspots, dafür größere helle Flecken auf der Corona-Landkarte zu sehen waren, und eine ordentliche Menge Impfstoff in Sichtweite war. Zusammen mit der groß angelegten Teststrategie könnte man vielleicht ausgleichen, dass zeitgleich die besonders ansteckende Briten-Variante B.1.1.7 Fahrt aufnahm.
Konnte man nicht: Nach zwei Wochen vorsichtiger Lockerung sieht es so aus, als würde die Ministerpräsidentenkonferenz am Montag, 22. März, keine weiteren Öffnungen im Alltag beschließen. Im Gegenteil: Der kritische Inzidenzwert von 100 wird dann bundesweit überschritten sein und die Corona-Notbremse müsste gezogen werden: keine weiteren Öffnungen, Rücknahme der bestehenden Lockerungen. So war es verabredet.
„Ich hoffe, die Politik setzt die Beschlüsse um, nach denen die Lockerungen bei einem Inzidenzwert über 100 zurückgenommen werden“, sagte schon Anfang der Woche Christian Karagiannidis. Der wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivregisters rechnete vor, dass die Lage bei den Intensivpatienten ähnlich wie im Oktober 2020 sei. „Damals gab es bundesweit 3000 Covid-Intensivpatienten. Wenn wir jetzt beim Impfen nachlassen, bei den Lockerungen bleiben und die Inzidenz bis 200 laufen lassen, dann können es 5000 bis 6000 Patienten werden“, erklärte der Mediziner. Das sei in den Kliniken die absolute Kapazitätsgrenze.
100er-Grenze für Lockerungs-Stopp muss wirklich gelten
Der Virologe Friedemann Weber von der Universität Gießen erwartet von der Politik jetzt eine klare Linie. FOCUS Online sagte er: „Es wird wichtig sein, dass die selbst aufgestellte 100er-Grenze auch wirklich gilt.“
Bei immer mehr Länderchefs rennt er damit offene Türen ein. Am deutlichsten sagte es Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer schon vor Tagen: „Es funktioniert nicht“ lautet sein knappes Urteil über die Lockerungspläne der letzten MPK. Sie seien gescheitert. Alle, die die Pandemie aus wissenschaftlicher Sicht beurteilen, verwundert das nicht.
Friedemann Weber sagt: „Die Öffnungen kamen zu früh. Und sie sendeten das Signal, dass alles unter Kontrolle sei. War und ist es aber nicht.“ So hält er die im Stufenplan zentrale Rückkehr zum Präsenzunterricht an Schulen für kritisch. „Schulschließungen tragen deutlich zur Eindämmung der Ansteckungen bei“, sagt der Virologe.
Ralf Reintjes, Epidemiologe an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, sagte gegenüber FOCUS Online: „Die Entwicklung der letzten Wochen entspricht ziemlich genau den Vorhersagen vieler epidemiologischer Berechnungen, Modellierungen und Erwartungen. In diese Phase steigender Inzidenzen hinein wurden dann, zum Erstaunen vieler Epidemiologen, Lockerungen beschlossen.“ Das sei um so fataler, weil es keine ausreichende Vorbereitung gab. „Durch gezielte Maßnahmen, unter Verwendung einer geeigneten Teststrategie und durch deutlich höhere Durchimpfungsraten, hätte man zu einem geeigneteren Zeitpunkt, unter besseren Voraussetzungen öffnen können.“
Dirk Brockmann, der die Projektgruppe Epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten am Robert-Koch-Institut (RKI) leitet, sagte im „Morgenmagazin“: „Wir sind genau in der Flanke der dritten Welle. Und in diese Flanke hinein wurde gelockert. Das ist total irrational gewesen, hier zu lockern. Das befeuert nur das exponentielle Wachstum.“