Corona-Krise immer schlimmer: Was nötig ist, damit wir Vorsprung nicht verspielen
23. Juni 2020Während in anderen Ländern die Fall- und Todeszahlen dramatisch steigen, dreht sich bei uns alles um die nächsten Lockerungen. Dabei warnen viele Experten vor einer neuen Infektionswelle im Herbst. Sind wir darauf vorbereitet oder fahren wir unseren Vorsprung in der Pandemie gerade gegen die Wand?
Deutschland ist bisher vergleichsweise gut durch die Corona-Krise gekommen. Wie gut, das zeigt ein Blick auf andere Staaten: Spanien und Italien wurden von der Infektion wie von einer Tsunamiwelle überrollt. In den USA, Brasilien und Großbritannien nahmen die Regierungschefs das neue Coronavirus nicht so ernst und bezahlten mit dramatisch vielen Covid-19-Opfern. Indien, Nigeria oder Ägypten haben keine ausreichende medizinische Infrastruktur für eine derartige Gesundheitskrise. Und viele mehr bekommen die Pandemie nicht in den Griff. 130 Länder stuft die Bundesregierung als Corona-Risikogebiete ein.
Und während Deutschland und seine Bürger in einen oft mehr als lässigen Lockerungsmodus geschaltet haben, sehen wir, dass es auch bei uns noch nicht vorbei ist. Sars-CoV-2 ist noch da, ist noch immer hochansteckend, kann jeden erwischen, der Kontakt mit einem Infizierten hat.
Die aktuellen Ausbrüche in Berlin, Göttingen und Gütersloh zeigen, wie zerbrechlich die Normalität ist, die zwischen Nordsee und Alpen schon wieder herrscht. Zum Beispiel Gütersloh: Mehr als 1500 Infizierte im Schlachtbetrieb Tönnies (Stand: 23.6. mittags), über 7000 Menschen bisher in Quarantäne und die gerade erst geöffneten Schulen und Kitas sind schon wieder zu.
Lokale Infektions-Cluster dürfen nicht zu 2. Coronavirus-Welle führen
Noch handelt es sich um das Aufflackern lokaler Ausbrüche. Alle Fachleute für hochansteckende Infektionskrankheiten sehen sie für eine lange Zeit als unvermeidbar. Dann kommt es darauf an, solche Infektions-Cluster schnell zu entschärfen, um die Reproduktionszahl niedrig zu halten und die Ansteckungskette zu unterbrechen.
Doch die Ausbrüche fördern die Angst vor einer zweiten Welle, die unbedingt vermieden werden soll. Die Befürchtung ist ohnehin, dass zum Winter hin die Infektionszahlen in ganz Deutschland noch einmal steil nach oben gehen. Die Kombination aus Kälte und geschlossenen Räumen machen es dem Coronavirus besonders leicht.
RKI-Präsident Lothar Wieler hält eine zweite und dritte Infektionswelle in Deutschland für höchst wahrscheinlich. Nur ein konsequentes Einhalten der Vorsichtsmaßnahmen könnte das verhindern. „Wenn wir uns alle vernünftig verhalten und Infektionen vermeiden, dann haben wir eine Chance, auch eine zweite Welle zu vermeiden“, sagte RKI-Vizepräsident Lars Schaade in einem Pressebriefing.
Mit einer großen zweiten Welle, die möglicherweise einen landesweiten Lockdown nach sich ziehen würde, würde Deutschland alles bisher Erreichte verspielen. Damit dass nicht passiert, können wir uns auf eine Reihe von Erfahrungen stützen, die Deutschland auch weiter gut durch die Pandemie steuern sollen.
Erfahrung 1 aus der Coronavirus-Krise: Das deutsche Gesundheitssystem hält
Am wenigsten Angst vor einer zweiten Welle haben die, die am direktesten betroffen wären: die Mediziner und Intensivmediziner. Sie haben gesehen, wie gut und schnell das System hochgefahren werden kann. Ein dichtes Kliniknetz, ausreichend Intensivbetten und geschultes Personal würde mit einer größeren Patientenzahl fertig. Dramatische Situationen wie in Brasilien, Indien oder Teilen der USA brauchen wir nicht zu fürchten. Medizinisch wäre Deutschland gut vorbereitet.
Christian Weber, Ärztlicher Direktor der Asklepios Klinik in Hamburg-Wandsbek sagte im Gespräch mit FOCUS Online: „Käme es zu einer zweiten Welle, wären wir gut vorbereitet. Wir haben mehr Beatmungsgeräte angeschafft, insgesamt mehr personelle und strukturelle Ressourcen geschaffen. Wir können das Programm sehr schnell wieder aufrollen.“
Und Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und Direktor des Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt/Main sagt ebenfalls in einem FOCUS-Online-Gespräch zu den Folgen einer möglichen zweiten Welle: „Zumindest im Gesundheitswesen brauchen wir eine Vollbremsung mit weitgehender Stilllegung von Kliniken kein zweites Mal. Im weiteren Verlauf dieser Pandemie und wenn wir das nächste Mal in eine solche Situation kommen, werden wir besser vorbereitet sein.“
Erfahrung 2: Nie wieder zu wenige Atemmasken!
Am 31. Dezember 2019 lagen als eiserne Reserve lediglich rund 150.000 Masken mit dem FFP-Qualitätsstandard und 1,9 Millionen einfache OP-Masken bereit. Die Bundesregierung nutzte ihre Vorräte, um den Anfangsbedarf in der Krise zu decken. Dann wurde es teuer und chaotisch. Das soll nicht wieder vorkommen.
Um künftig in einer solchen Krise schneller reagieren zu können, will Deutschland die Abhängigkeit vom Weltmarktführer China verringern und inländische Produktionskapazitäten fördern. Daran arbeitet das Wirtschaftsministerium. Insgesamt sollen in Deutschland bis Ende 2021 etwa 3,5 Milliarden FFP2- und OP-Masken hergestellt werden.
Auch die Bundesländer haben sich in die Beschaffung medizinischer Schutzausrüstung eingeschaltet. So hat etwa Baden-Württemberg seit dem Frühjahr, als der Bestand an Schutzkleidung und Masken knapp wurde und ein weltweites Materialgerangel einsetzte, knapp 114 Millionen Masken, Anzüge, Handschuhe besorgt. Mitte Juni und mit gefüllten Lagern stieg das Land aus der Beschaffung wieder aus.
Auch in NRW ist das Landeslager für Schutzausrüstung an der Messe Düsseldorf seit Anfang Juni prall gefüllt, etwa mit Adhoc-Produktionen wie vom Mönchengladbacher Unternehmen van Laack, das zehn Millionen Schutzkittel lieferte.
Mit Blick auf mögliche zukünftige pandemische Lagen betont Gesundheitsminister Laumann: „Wir müssen aus den gewonnenen Erfahrungen lernen. Für mich ist daher eines klar: Das Thema Schutzausrüstung muss mittel- und langfristig auf sicheren Beinen stehen. Ich möchte nicht noch einmal um Produkte auf dem Weltmarkt kämpfen müssen, deren Kosten sich eigentlich im Cent-Bereich bewegen sollten.“
Erfahrung 3: Testen, testen und noch mehr testen
Derzeit wird ein Test auf Coronaviren nur unter bestimmten Risiko-Voraussetzungen gewährt und von den Krankenkassen bezahlt. Experten fordern seit langem eine deutliche Ausweitung bei Tests etwa in Pflegeheimen, Kliniken, Gemeinschaftsunterkünften, Schulen und Kitas. Die Kapazitäten wären vorhanden. In der 24. Woche (Mitte Juni) wurden 320.00 pro Woche durchgeführt. Das waren nur 40 Prozent der von den Laboren gemeldeten Kapazitäten.
Der Virologe und Pandemieexperte Alexander Kekulé von der Universität Halle fordert eine massive Ausweitung der Testkapazitäten. Er ist überzeugt davon, dass im Herbst die Infektionen deutlich zunehmen werden und wir dann gut aufgestellt sein sollten. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte er: „Wir müssen massenhaft in der Lage sein, das Virus sofort sichtbar zu machen.“ Eine halbe Million Menschen täglich sollte Deutschland täglich testen – vor allem mit Schnelltests, die binnen weniger Minuten ein Ergebnis zeigten und zum Beispiel bei der Einreise an Flughäfen oder vor Besuchen in Krankenhäusern und Pflegeheimen verpflichtend sein sollten.
Ideal wäre dazu aus seiner Sicht zum Beispiel eine deutsch-französische Initiative, etwa in Form einer gemeinsam finanzierten Fabrik, die in großem Stil Tests für Europa produziert.
Einen Schnelltest könnte bald das Mainzer Start-up Digital Diagnostics bereitstellen. Es hat gerade die Sonderzulassung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte beantragt. Der Nachweis geschieht bei diesem Corona-Schnelltest in wenigen Minuten. Er ist nicht nur deutlich schneller als die bisherigen Verfahren, er kann hohe Testzahlen verarbeiten – und das Infektionsgeschehen digital erfassbar machen.
Erfahrung 4: Die Corona-Warn-App kann sich bei einer 2. Welle beweisen
Die Corona-Warn-App des Bundes stößt bei den Menschen in Deutschland auf eine noch größere Resonanz als erhofft. Seit ihrem Start am 16. Juni wurde sie mehr als sieben Millionen Mal heruntergeladen und installiert. Sie soll die Nachverfolgung von Kontaktpersonen eines positiv getesteten Menschen erleichtern.
In seinem Podcast setzte der Charité-Virologe Christian Drosten große Hoffnungen in die App. Sie könne helfen, eine zweite Welle zu verhindern. Die konventionelle Nachverfolgung durch die Gesundheitsämter habe nicht mit der Geschwindigkeit der Virusausbreitung mitgehalten. Gerade für das Aufspüren sogenannter Infektionscluster, also Orten, an denen viele Personen durch einige wenige Menschen angesteckt werden, sei die App hilfreich.
Gerade jetzt, wenn Maßnahmen gelockert werden, sei es besonders wichtig, Infektionsketten gut nachverfolgen zu können, erklärt Drosten. Je besser das Tracing funktioniere, desto länger könne man die Lockerungen durchhalten, „auch zum Herbst und Winter hin“.
Erfahrung 5: Aerosol-Ansteckung verhindern
Höchste Ansteckungsgefahr besteht, wenn sich Menschen längere Zeit dicht beieinander in einem geschlossenen Raum von bescheidener Größe aufhalten – also im deutschen Alltag in der kalten Jahreszeit.
Das RKI rät in etwas sperriger Sprache: „Generell können Aerosole durch regelmäßiges Lüften bzw. bei raumlufttechnischen Anlagen durch einen Austausch der Raumluft unter Zufuhr von Frischluft (oder durch eine entsprechende Filtrierung) in Innenräumen abgereichert werden.“
Konkreter wird die Berufsgenossenschaft Holz und Metall bei ihren Empfehlungen zur Aerosol-Vermeidung am Arbeitsplatz: „Üblich ist in Büroräumen das stündliche Öffnen von Fenstern für einige Minuten. Aufgrund der aktuellen Situation ist ein Rhythmus von 20 Minuten angemessen. Thermische Unbehaglichkeit müssen Sie zugunsten des Gesundheitsschutzes in Kauf nehmen.“ Außerdem warnen sie vor Lüftungsanlagen, die nur die Raumluft umwälzen ohne große Frischluftzufuhr. „Sie tragen im Zweifelsfall nur zur Verteilung der Viren bei.“
Für eine unbesorgte Rückkehr zur Normalität könnten Firmen, Geschäfte oder Hotels in bessere (und teure) Filtrierungsanlagen investieren, die eine Aerosolbildung verhindern.
Erfahrung 6: Schule auf, Schule zu – das geht nicht. Es braucht ein Schulkonzept
In seinem Podcast vom 16. Juni plädierte Virologe Drosten für ein tragfähiges Konzept für Schulen. Auch das könnte helfen, eine zweite Welle zu verhindern. „Wenn wir uns eingestehen, dass wir, egal wie gefährlich es ist, die Schulen und Kitas wieder öffnen müssen, dann müssen wir fragen: Welche Werkzeuge gibt es, um dieser Gefahr entgegenzutreten?“
Drosten fordert zudem erneut eine vorsichtige Strategie für die Öffnung von Kindergärten und Schulen ein. Es sei zwar gesellschaftlich völlig klar, dass diese nach den Sommerferien wieder geöffnet werden müssen. Aber nicht einfach so: „Die Politik muss sich in diesen Wochen nicht Gedanken darum machen, ob man Schulen und Kitas wieder öffnet – sondern, wie man das absichert zum Herbst und Winter hin, damit es nicht zu riesigen Ausbrüchen kommt.“ Ziel müsse es sein, dass bei einer Infektion nicht gesamte Schulen, sondern „höchstens einzelne Klassen unter Quarantäne gestellt werden“.
Erfahrung 7: Homeoffice klappt besser als erwartet
Die meisten Arbeitnehmer sitzen gerne zuhause am Schreibtisch. Und auch Arbeitgeber stellen fest, dass es ziemlich gut klappt, wenn sie ihre Mitarbeiter nicht vor Ort im Blick haben.
Eine Untersuchung vom Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) ergab, dass nur 19 Prozent der Menschen mit dem Homeoffice unzufrieden sind. Die Zahl der zufriedenen Arbeitnehmer unterscheidet sich nach Erfahrung: 83 Prozent der Befragten, die auch zuvor schon Homeoffice gemacht haben, gaben an, zufrieden zu sein. Von den Neulingen sind 75 Prozent zufrieden.