In Gütersloh brodelt es: „Eigentlich müsste man den Tönnies ja anzeigen“

24. Juni 2020 Aus Von mvp-web

Nach dem Corona-Ausbruch beim Fleischbetrieb Tönnies wächst in Deutschland die Angst vor einer zweiten Corona-Welle und einem erneuten Lockdown. Die Menschen in Gütersloh haben allerdings ganz andere Sorgen – und sind richtig sauer auf Fleischfabrikant Clemens Tönnies.

Gütersloh, kurz nach 12 Uhr am Mittwoch. Theodoros Kogios steht geduldig in einer langen Schlange auf dem Schulhof des Miele-Berufskollegs. Seit gut vier Stunden wartet der 41-jährige Grieche darauf, dass er in dem neu eingeführten Diagnostikzentrum an die Reihe kommt, um sich auf das Corona-Virus testen zu lassen. Kogios erträgt die Hitze mit Ruhe und Geduld. „Kann man ja eh nichts machen.“ Der Vater dreier Kinder will es seiner Frau nach tun und einen Abstrich machen lassen, weil seine Gattin „als Altenpflegerin im Gesundheitsbereich arbeitet. Das sei natürlich in Corona-Zeiten ein hochsensibler Bereich“, doziert der Testaspirant.

Weil er in einem benachbarten Landkreis arbeitet, der nicht vom neuen Lockdown in der westfälischen Region Gütersloh und Warendorf betroffen ist, hat ihn sein Arbeitgeber vorübergehend nach Hause geschickt. Solange bis sich die Lage geklärt hat.

Die NRW-Landesregierung hat nach dem massenhaften Infektionsausbruch bei rumänischen und bulgarischen Leiharbeitern des Fleischfabrikanten Clemens Tönnies zunächst einmal bis Ende Juni die Corona-Sperren regional verschärft. Gut 1550 Infektionen sind in seinen Zerlegbetrieben im nahe gelegenen Rheda Wiedenbrück registriert, mehrere Tausend Menschen leben in Quarantäne. Theodoros Kogios glaubt nicht, „dass bereits zum Monatsende wieder alles normal wird.“ Und nun dem Tönnies allein die Schuld zu geben? Kogios zuckt mit den Schultern: „Ich weiß nicht.“ Der 41-jährige Gütersloher hat andere Probleme. „Seit Längerem sind wir in Kurzarbeit, ohne das zweite Gehalt meiner Frau käme die Familie nicht über die Runden.“

Angst vor zweiter Corona-Welle und erneutem Lockdown wächst

Heinsberg, Traunstein, Göttingen und nun Gütersloh. Die Städtenamen stehen für Corona-Hotspots, für die stete Furcht, dass die Pandemie erneut jegliches öffentliche Leben ersticken könne. Vom Beginn der zweiten Welle ist die Rede, schon drohe der nächste bundesweite Lockdown, hieß es.

Und auch die Schuldigen scheinen festzustehen: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), weil er sich zwei Tage gelassen hat, um dann im westfälischen Ausbruchsgebiet 670.000 Menschen erneut deren Bewegungsfreiheit einzuschränken. Zugleich auch, weil der Anwärter auf den CDU-Parteivorsitz an der Spitze der Coronalockerer steht und nun zurückrudern muss.

Schurke Nummer zwei: Fleischfabrikant Tönnies, der Arbeiter vom Balkan über Subunterunternehmer zu Billiglöhnen in seinen Schlachtbetrieben offenbar ausbeutet und die Familien in miesen Unterkünften hausen lässt. Diese Melange aus beengten Arbeits- und Wohnverhältnissen sorgten dafür, das Virus weiterzuverbreiten, so hieß es bisher.

Am Mittwochnachmittag wartete der Bonner Infektiologe Professor Martin Exner bei einer Pressekonferenz im Gütersloher Rathaus mit neuen überraschenden Erkenntnissen auf. Als Krisenmanager gefragt, hatte der Experte die Ursachen für die Infektionswelle bei Tönnies untersucht. Aus seiner Sicht existiert in allen Schlachthöfen ein großer „Risikofaktor, der bisher nicht bekannt war“. Die Arbeiter schlachteten bei Temperaturen zwischen sechs und zehn Grad. Um den Befall von Salmonellen und Listerien zu verhindern, zirkuliere in den Räumen über Kühlsysteme ein und dieselbe Luft, führte Exner aus.

Diese Umluft könne demnach auch ein „Aerosol in Bewegung halten“, der das Virus quasi weiterträgt. Das Problem existiert nach Angaben des Forschers vermutlich in allen Schlachthöfen. Insofern müsse man über neue Hochleistungsfilter und über UV-Licht-Behandlugen nachdenken. Sein Fazit fällt indes klar aus: „Der Wissenschaft war dies bisher nicht bekannt.“ Folglich habe es auch keine entsprechenden Hygieneregeln geben können.

„Eigentlich müsste man den Tönnies ja wegen Freiheitsberaubung anzeigen“

Norbert Braun sind solche Diskussionen gleich. Der 77-Jahre alte Rentner sitzt vor einem Cafe´ am Rathausplatz in Gütersloh im Schatten, rollt eine Zigarettenkippe zwischen den Fingern und flachst: „Eigentlich müsste man den Tönnies ja wegen Freiheitsberaubung anzeigen.“ Grinst und winkt dann aber ab. „Nee, nee“, sagt der Senior und schaut zu seiner Frau Gisela hinüber, „aber traurig ist dat schon, vor allen Dingen für die jüngeren Leute.“ Dann aber wird seine Miene ernst. Mittlerweile fühle man sich als Gütersloher wie ein Geächteter, sagt der Senior.

eden Nachmittag fährt Braun mit seiner Frau aus. Eine Spritztour zum Entspannen oder Shoppen. Gestern noch war er noch in Detmold, rollte mit seinem GT-Kennzeichen (Gütersloh) auf einen Behindertenparklatz vor einen Supermarkt. „Wir sind dann in dat Café und dann hörtest Du schon diese Lästereien über die Leute aus Gütersloh.“ Braun sagte nichts, hörte einfach nur zu. „Am Ende bin ich dann mit meiner Frau aufgestanden und zu meinem Auto mit dem GT-Kennzeichen gegangen, die guckten nur noch verschämt an.“

Insgesamt wirkt die City der neuen Corona-Hauptstadt entspannt. Nichts deutet auf einen Ausnahmezustand hin. Die Leute sitzen zusammen, trinken oder essen etwas. Geschäfte und Lokale haben geöffnet. Der Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU) hat denn auch von einem „Lockdown-Light“ gesprochen. Einzig die verstärkte Polizeipräzens durch Beamte der Einsatzhundertschaften in deutet auf eine angespannte Lage hin.

Myriam Novikovak, 33, ärgert vor allem, dass man „bei der Hitze jetzt nicht ins Freibad kann.“ Dass mit dem Tönnies sei ein schweres Thema – zu schwer für sie.

„Die arbeiten echt unter schlimmen Bedingungen, aber da passierte ja nichts“

Jürgen Stracke und seine Frau Petra genießen die Zeit auf einer Bank.

Den 73-jährigen Ruheständler ärgert insbesondere, dass plötzlich alle Bewohner aus Gütersloh wie Parias behandelt werden. Neben Bayern, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern hat auch der Sprengel Osnabrück für Besucher aus dem benachbarten Landkreis Gütersloh besondere Auflagen aufgestellt. Wer dagegen verstößt, riskiert Geldbußen bis zu 25.000 Euro.

Aus Sicht der Strackes sollte „der Tönnies für den ganzen Schaden haften“

Das Problem mit den schlechten Unterkünften für die rumänischen Leiharbeiter sei längst bekannt. „Die arbeiten echt unter schlimmen Bedingungen, aber da passierte ja nichts“, sagt Jürgen Stracke. „Und jetzt sitzen sie eingesperrt in ihren Quartieren.“

Gut 13 Kilometer weiter sperren Zäune zahlreiche Wohnblocks ab. Männer, Frauen und Kinder laufen am Zaun entlang. Die Stimmung wirkt äußerst gedrückt. Hunderte überwiegend rumänische Bewohner, die bei Tönnies beschäftigt und sich teils infiziert haben, leben hier in Quarantäne. Ein Polizeibully parkt dezent im Schatten eines Baumes am Eingang zu dem Wohnareal.

Eine Frau, etwa Mitte 30, Tätowierungen am Arm, schaut verächtlich durch den Zaun so als wollte sie sagen: „Was macht ihr mit uns ?“. Am Zugangstor sammeln sich viele Bewohner um einen Einkaufswagen, gefüllt mit Fladenbrot, Reis, Tomaten und Gemüse. Abed Elyas und sein Bruder, die mit ihrer Familie einen kleinen Supermarkt nur 100 Meter entfernt von der Siedlung betreiebn, haben die Waren gespendet.  „Diese Menschen verdienen Mitleid“, bekundet Abed. „Denn es geht ihnen nicht gut.“

Focus Online: Mittwoch, 24.06.2020, 18:47