Angst vor zweiter Corona-Welle und erneutem Lockdown wächst
24. Juni 2020Heinsberg, Traunstein, Göttingen und nun Gütersloh. Die Städtenamen stehen für Corona-Hotspots, für die stete Furcht, dass die Pandemie erneut jegliches öffentliche Leben ersticken könne. Vom Beginn der zweiten Welle ist die Rede, schon drohe der nächste bundesweite Lockdown, hieß es.
Und auch die Schuldigen scheinen festzustehen: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), weil er sich zwei Tage gelassen hat, um dann im westfälischen Ausbruchsgebiet 670.000 Menschen erneut deren Bewegungsfreiheit einzuschränken. Zugleich auch, weil der Anwärter auf den CDU-Parteivorsitz an der Spitze der Coronalockerer steht und nun zurückrudern muss.
Schurke Nummer zwei: Fleischfabrikant Tönnies, der Arbeiter vom Balkan über Subunterunternehmer zu Billiglöhnen in seinen Schlachtbetrieben offenbar ausbeutet und die Familien in miesen Unterkünften hausen lässt. Diese Melange aus beengten Arbeits- und Wohnverhältnissen sorgten dafür, das Virus weiterzuverbreiten, so hieß es bisher.
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Am Mittwochnachmittag wartete der Bonner Infektiologe Professor Martin Exner bei einer Pressekonferenz im Gütersloher Rathaus mit neuen überraschenden Erkenntnissen auf. Als Krisenmanager gefragt, hatte der Experte die Ursachen für die Infektionswelle bei Tönnies untersucht. Aus seiner Sicht existiert in allen Schlachthöfen ein großer „Risikofaktor, der bisher nicht bekannt war“. Die Arbeiter schlachteten bei Temperaturen zwischen sechs und zehn Grad. Um den Befall von Salmonellen und Listerien zu verhindern, zirkuliere in den Räumen über Kühlsysteme ein und dieselbe Luft, führte Exner aus.
Diese Umluft könne demnach auch ein „Aerosol in Bewegung halten“, der das Virus quasi weiterträgt. Das Problem existiert nach Angaben des Forschers vermutlich in allen Schlachthöfen. Insofern müsse man über neue Hochleistungsfilter und über UV-Licht-Behandlugen nachdenken. Sein Fazit fällt indes klar aus: „Der Wissenschaft war dies bisher nicht bekannt.“ Folglich habe es auch keine entsprechenden Hygieneregeln geben können.
„Eigentlich müsste man den Tönnies ja wegen Freiheitsberaubung anzeigen“
Norbert Braun sind solche Diskussionen gleich. Der 77-Jahre alte Rentner sitzt vor einem Cafe´ am Rathausplatz in Gütersloh im Schatten, rollt eine Zigarettenkippe zwischen den Fingern und flachst: „Eigentlich müsste man den Tönnies ja wegen Freiheitsberaubung anzeigen.“ Grinst und winkt dann aber ab. „Nee, nee“, sagt der Senior und schaut zu seiner Frau Gisela hinüber, „aber traurig ist dat schon, vor allen Dingen für die jüngeren Leute.“ Dann aber wird seine Miene ernst. Mittlerweile fühle man sich als Gütersloher wie ein Geächteter, sagt der Senior.
Focus Online: Mittwoch, 24.06.2020, 20:11