RKI und WHO missachteten Studie-Warnung ignoriert: Entscheidender Fehler im Kampf gegen Corona unterlief uns im Januar
1. Juli 2020Schon Ende Januar fand eine Münchner Forschergruppe heraus, dass Covid-19-Patienten in der Inkubationszeit infektiös sind. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie sofort in einer Fachzeitschrift. Doch statt die Warnung ernst zu nehmen, spielten die Gesundheitsorganisationen sie herunter.
Aktuell gibt es weltweit mehr als zehn Millionen Corona-Infizierte (Stand 29. Juni), und mehr als 500.000 Menschen sind bereits in Folge des Virus gestorben. Hätte man solche Zahlen verhindern können, wenn man die frühen Warnungen von Forschern ernster genommen hätte? Diese Frage wirft jetzt die „New York Times“ in den Raum – im Zentrum ihrer Diskussion stehen ausgerechnet deutsche Ärzte.
So war es Camilla Rothe, stellvertretende Leiterin der Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin am LMU-Klinikum München, die den neuartigen Erreger Sars-CoV-2 am 27. Januar zum ersten Mal bei einem deutschen Patienten identifizierte.
ur Erinnerung: Es handelte sich um einen 33-jährigen Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto, der sich bei einer Kollegin aus China angesteckt hatte. Diese wiederum hatte während ihrer Dienstreise in Deutschland keine Krankheitssymptome gezeigt; erst nach ihrer Rückkehr fühlte sie sich unwohl. In Shanghai wurde sie positiv auf das Virus getestet.
Zu diesem Zeitpunkt glaubten die meisten Wissenschaftler noch, dass nur Patienten mit Symptomen infektiös sind. Rothe und ihr Forschungsteam indes zweifelten daran. Denn nach ihren Beobachtungen könnte der Erreger durchaus in der Inkubationszeit weitergegeben werden, noch bevor sich erste Symptome zeigen – so wie bei der chinesischen Webasto-Kollegin.
Schon am 30. Januar ging der Bericht online
Sofort teilte Rothe ihre Erkenntnisse ihrem Chef Michael Hölscher mit, der sich wiederum an die Fachzeitschrift „The New England Journal of Medicine“ (NEJM) wandte. „Wir halten unsere Beobachtungen für außerordentlich wichtig“, soll er nach Angaben der „New York Times“ geschrieben haben.
Schon am 30. Januar veröffentlichten Hölscher, Rothe und ihr Team dann ihren Bericht in der NEJM: Demnach warnten sie, dass auch Patienten, die keine Symptome haben, infektiös sind. Und ernteten direkt Zweifel.
Ein „Problem“: Sie hätten nicht persönlich mit der chinesischen Patientin gesprochen, sondern sich auf einen Bericht von Gesundheitsbeamten, die sie befragt hätten, gestützt – wonach die Frau zwar unter leichten Schmerzen und Müdigkeit litt, diese aber nicht auf eine mögliche Infektion mit dem Virus zurückführte. Das wiederum bedeutete, dass sie nicht asymptomatisch gewesen sein konnte, sondern präsymptomatisch.
RKI zweifelte Erkenntnisse von Münchner Forschern an
Auch das Robert-Koch-Institut (RKI), das laut der „New York Times“ zweimal selbst mit der Frau telefoniert hatte, monierte, dass diese durchaus Symptome gehabt habe, sie aber nicht als Anzeichen einer Covid-19-Infektion erkannt hatte – und kritisierte damit, dass der Bericht des Münchner Forschungsteams unsauber formuliert sei.
Doch der eigentliche Konflikt, so die „New York Times“, sei ein anderer gewesen: Mit der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse sind die Münchner Experten einer anderen deutschen Forschergruppe um nur drei Stunden zuvorgekommen.
Dieses zweite Team bestand aus Experten vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) und dem RKI. Sie seien mithin zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gekommen, formulierten es allerdings anders. Denn laut ihnen sind Patienten auch dann infektiös, bevor sie alle Symptome zeigen – also zu einer Zeit, in der ihre Symptome noch so schwach sind, dass Patienten die Infektion mit dem Coronavirus nicht bemerken.
Bericht bleibt weitgehend unberücksichtigt
Kurz nach der Veröffentlichung des Berichtes des Münchner Teams soll Hölscher demnach einen Anruf von Andreas Zapf, Leiter des LGL, bekommen haben. Dieser soll ihm gesagt haben, dass man „in Berlin sehr verärgert über diese Veröffentlichung ist“. Man wünsche sich, dass der Bericht entsprechend neu formuliert werde und die Namen der Münchner Experten ersetzt würden durch die der zweiten Gruppe. Hölscher lehnte ab.
Am 3. Februar veröffentliche eine andere Fachzeitschrift, „Science“, dann einen Artikel, in dem sie sich auf die Einwände des RKI bezieht und Rothes Bericht als „fehlerhaft“ bezeichnete.
Und obwohl Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing schon am nächsten Tag seine Erkenntnisse, wonach bereits Infizierte mit schwachen Symptomen infektiös sind, lancierte, blieben sowohl diese als auch die seiner Münchner Kollegen weitgehend unberücksichtigt.
Auch WHO spielt Gefahr von stillen Verbreitern herunter
Stattdessen stürzen sich die meisten Wissenschaftler auf Rothes und Hölschers Bericht. So teilte das schwedische Gesundheitsamt auf seiner Webseite mit, dass es „keine Beweise dafür gebe, dass Menschen bereits in der Inkubationszeit infektiös sind“. Und das französische Gesundheitsamt erklärte: „Eine Person ist erst dann infektiös, wenn sie Symptome hat“.
Selbst die Epidemiologin Sylvie Briand von der Weltgesundheitsorganisation WHO twitterte: „Eine Studie, die behauptet, dass das Coronavirus von Menschen ohne Symptome übertragen werden kann, war falsch“.
Und selbst vier Wochen nach Veröffentlichung des Berichtes am 27. Februar sagte Maria van Kerkhove, Mitglied des WHO-Nothilfekomitees und Leiterin des Referates für neu auftretende Krankheiten und Zoonosen, dass man sich nicht großartig sorgen müsse vor den „stillen Verbreitern“: „Es passiert selten, aber es ist möglich. Aber es ist sehr selten.“ Daran hält die WHO auch noch immer fest.
Auf mehrfache Anfrage reagiert das RKI nicht
Erst Anfang März, als immer mehr internationale Wissenschaftler zu ähnlichen Ergebnissen wie die deutschen Forscher kamen, begann sich die Meinung allmählich zu ändern. Gegen Mitte bis Ende März kam es dann endlich zu einem Richtungswechsel, als die ersten Lockdowns verhängt wurden und die Maskenpflicht eingeführt wurde.
Was also, wenn man Rothe und Hölscher schon im Januar zugehört hätte? Rückblickend wäre das richtig gewesen, konstatiert Agoritsa Baka vom Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Warum das RKI und die WHO nicht gehandelt haben, bleibt unbekannt – auf mehrfache Anfrage der „New York Times“ habe das RKI nicht reagiert.
Wie viele Menschen haben eine asymptomatische Infektion?
Wie viele Menschen sich zwar mit dem Virus infizieren, aber keine Symptome entwickeln, ist nicht abschließend geklärt. Eine Untersuchung in einem der ersten Corona-Hotspots Ischgl zeigte kürzlich, dass 85 Prozent der Infizierten nichts von ihrer Corona-Infektion bemerkt hatten, sie war bei ihnen subjektiv asymptomatisch verlaufen. Andere Untersuchungen kommen zu geringeren Anteilen asymptomatisch verlaufender Infektionen. Studien aus Italien und China etwa hatten unabhängig voneinander je eine Quote von rund 43 Prozent asymptomatisch Infizierter nachgewiesen. Die sogenannte Heinsberg-Studie, die Feldforschung des Bonner Virologen-Teams um Hendrik Streeck, sogar nur 22 Prozent.
Welche Symptome inzwischen als „typisch“ für die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Krankheit Covid-19 gelten, erklärt das RKI. Diese Symptome sind insbesondere:
- erhöhter Temperatur von mehr als 37,5 Grad Celsius
- Husten
- Verlust des Geschmacks- und Geruchssinns
- Halsschmerzen
- eine laufende Nase
- Durchfall
- ein allgemeines Gefühl der Schwäche
Nachtrag:
Am 30. Juni erreichte uns um 16 Uhr eine Stellungnahme des RKI zu den Vorwürfen, die die „New York Times“ gegen es erhoben hat. Darin heißt es:
„Am 30. und 31.1.2020 fanden Gespräche zwischen der chinesischen Indexpatientin und Vertretern des LGL in Bayern und des RKI statt (am 31.1. 2020 zusätzlich mit einer Muttersprachlerin aus China, die beim RKI tätig ist). Im Gegensatz zu den ersten Berichten – und den Angaben im von Ihnen erwähnten NEJM-Artikel, an dem das RKI nicht beteiligt war, veröffentlicht am 30.1.2020), wonach die chinesische Indexpatientin während ihres Kontakts mit den deutschen Fällen als nicht symptomatisch erschien, haben Gespräche seitens des RKI und LGL in Bayern mit der Indexpatientin (auf Chinesisch) ergeben, dass sie während des Kontakts wahrscheinlich milde, unspezifische Symptome (wie Rückenschmerzen) hatte, die aber auch schwer zu bewerten waren, da sie ein fieber- und schmerzsenkendes Medikament eingenommen hatte. Das LGL in Bayern war bei den Gesprächen federführend. Die Ergebnisse wurden auch der WHO und dem ECDC mitgeteilt. Es handelt sich hier also um die Präzisierung der Umstände, unter denen es zu den ersten Übertragungen in Deutschland gekommen ist.
Das RKI hatte damals überlegt, einen Letter ans NEJM zu schreiben und dies gegenüber Science bestätigt, dies aber verworfen. Die Autoren des NEJM-Artikles hatten am 7. Februar dem Artikel zusätzliches Material hinzugefügt, in dem detaillierter auf die chinesische Patientin und ihre frühe Symptomatik eingegangen wird: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMc2001468
Für die Einschätzung seitens des RKI wichtiger waren die Untersuchungesergebnisse im Rahmen des Webasto-Clusters (preprint am 30.03., später publiziert in Lancet inf Dis https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32422201), aus dem hervorging, dass zumindest eine frühe Übertragung, d.h. am Tag des Symptombeginns oder vielleicht schon davor, bei mehreren Fällen festgestellt werden konnte. Zusätzlich wurde klar, dass es eine so genannte prodromale Phase geben kann, während der aber eine Übertragung schon möglich scheint. Dies stand – so gesehen – im Einklang mit dem im NEJM beschriebenen Fall.
Die Ergebnisse wurden international intern an WHO und ECDC kommuniziert. Es hatte auch vorher schon eine Veröffentlichung aus China gegeben, die eine Übertragung durch eine präsymptomatische bzw. asymptomatische Person vermuten ließ. Allerdings war zu dieser Zeit noch überhaupt nicht klar, in welchem Ausmaß solche Übertragungen stattfinden und ob diese Beobachtungen auch in andere Ländern oder anderen Settings oder anderen Altersgruppen gemacht werden. Das Wissen dazu füllte sich erst in den kommenden Monaten durch Publikation weiterer epidemiologischer Analysen von Ausbrüchen oder anderen dafür auswertbaren Ereignissen, z.B. so genannte Infector-Infectee-Paare.
Insgesamt haben die Fälle aber gezeigt, dass Covid-19-Patienten schon anfangs sehr unspezifische Symptome zeigen können und erst etwas später Atemwegsbeschwerden und Fieber entwickeln. Für das RKI bedeutete das, dass bei der Kontaktpersonennachverfolgung auch die Personen mit einbezogen werden müssen, die mit dem bestätigte Fall bis zu zwei Tage vor Auftreten seiner/ihrer Symptome Kontakt hatten. Entsprechend wurden die Falldefinitionen des RKI für Verdachtsfälle bereits Anfang Februar angepasst.
Das haben wir (in gekürzter Form) auch den Autoren des NYT-Artikels mitgeteilt.“