Streit um Inzidenz-Werte im Kreis Vorpommern-Greifswald

Streit um Inzidenz-Werte im Kreis Vorpommern-Greifswald

5. April 2021 Aus Von mvp-web
Stand: 05.04.2021 17:10 Uhr

Verschleppt der Landkreis Vorpommern-Greifswald bewusst die Meldung von Corona-Fällen, um die Inzidenzwerte niedrig zu halten? Diesen Vorwurf erheben die Grünen im Kreis. Landrat Michael Sack (CDU) widerspricht. Er erklärt Diskrepanzen unter anderem mit der Verwendung unterschiedlicher Softwaresysteme.

Einer der wichtigsten Indikatoren bei der Beurteilung des Pandemie-Geschehens ist der Sieben-Tage-Inzidenzwert. Doch immer wieder gibt es unterschiedliche Zahlen, die Abweichungen offenbaren, zum Beispiel zwischen den offiziellen Werten des RKI und anderen Berechnungen. Besonders große Abweichungen gibt es seit einiger Zeit im Landkreis Vorpommern-Greifswald. Die Datenexperten des NDR etwa wiesen auf ihrer Zusammenfassung der Situation in den Landkreisen am 3. April den offiziellen RKI-Wert von rund 70 aus – bezogen sie jedoch den Meldeverzug in ihre Berechnungen ein, ergab sich ein Wert von rund 140.

Werden Inzidenz-Werte künstlich niedrig gehalten?

Hannes Damm, Physiker und Landtagskandidat der Grünen in Vorpommern-Greifswald, hatte in einem Online-Video die Meldeverzögerung anhand der Zahlen des Landkreises erklärt und war dabei zu dem Ergebnis gekommen, der Kreis verzögere systematisch die Meldung von Neuinfektionen. „Der Vorwurf lautet: Dadurch, dass sehr, sehr spät gemeldet wird, viele Fälle nicht mehr in die Inzidenzberechnung der letzten sieben Tage hereinfallen“, erklärte Damm am Montag im Gespräch mit dem NDR in Mecklenburg-Vorpommern. Damit sei die Inzidenz massiv niedriger, als sie eigentlich anhand der beim Gesundheitsamt eingehenden positiven Test berechnet werden müsste. „Das bedeutet, dass Fälle, die länger als sieben Tage dort liegen bleiben, gar nicht mehr in die Inzidenzberechnung hineinkommen und Fälle, die beispielsweise erst nach einer halben Woche hineinkommen, entsprechend nur mit halber Gewichtung reinkommen.“

Vorwurf: Landkreis mit größter Meldeverzögerung deutschlandweit

Meldeverzüge gibt es auch in anderen Landkreisen. Im niedersächsischen Landkreis Cloppenburg etwa weicht am 5. April die Schätzung ohne Meldeverzug (268,3) um rund 64 Punkte vom  offiziellen Inzidenzwert ab (204,5). Damm meint jedoch, die Diskrepanz zwischen ausgewiesener und tatsächlicher Inzidenzzahl sei nirgends so gravierend wie im Kreis Vorpommern-Greifswald. Noch Anfang April seien Fälle positiver Tests erst am fünften Tag gemeldet worden, so Damm. Dabei habe der Landkreis bis Mitte Februar die Zahlen „sauber“ ausgewiesen, also positive Tests auch weitgehend am selben Tag gemeldet. Seit dem 16. Februar habe jedoch eine „riesige Abweichung“ begonnen. „Da sprechen wir auch von mehreren Tagen Meldeverzögerung. Und seitdem wird es immer schlimmer“, so Damm.

Grüne verbinden Beginn des Meldeverzugs mit Personal-Entscheidung im Stab Sacks

Damm stellt die Vermutung an, das würde absichtlich geschehen, um den Inzidenzwert künstlich klein zu rechnen. Es gebe eigentlich keine erkennbaren Gründe, warum die Zahlen seit Mitte Februar so stark abweichen, so Damm. Das Behörden-Personal sei nicht weniger geworden, es seien auch nicht mehr Daten aufzuarbeiten gewesen. „Das Einzige, was uns in der Zeit aufgefallen ist eben, dass die Führungsebene dieser zuständigen Corona-Kontaktmeldung -und Nachverfolgung.“ Sie sei vom Gesundheitsamt herausgelöst worden und als neue Stabsstelle direkt unter dem Landrat aufgehangen worden. Die Grünen haben mittlerweile das Innen- und Sozialministerium gebeten, zu überprüfen ob hier eine Dienstpflichtverletzung von Landrat Sack vorliegt. Sack ist Spitzenkandidat seiner Partei im Landtagswahlkampf.

Sack: „Kann Vorwürfe in keiner Weise bestätigen“

Auf Nachfrage des NDR weist Sack sämtliche Vorwürfe zurück und bezeichnet sie als haltlos. „Diese Vorwürfe, so massiv, wie sie hier von den Grünen formuliert werden, die kann ich Ihnen keiner Weise bestätigen“, erklärte Sack gegenüber dem NDR Nordmagazin. Hinsichtlich der Diskrepanz zwischen offizieller Inzidenz und der ohne Meldeverzug berechneten verweist Sack auf die Verwendung verschiedener Softwaresysteme, mit denen die Daten an die Gesundheitsämter und das Robert Koch-Institut übermittelt werden sowie auf eine angespannte Personalsituation bei den zuständigen Behörden. Laut Sack unterscheiden sich die Datenbasen der beiden verwendeten Systeme Sormas und SurvNet erheblich. „Bevor wir die Meldedaten an das LAGuS weiterleiten, sind so um die 70 Fragen zu beantworten von den Betroffenen. Das heißt, wir müssen denjenigen erst einmal kontaktieren. Wir müssen ihn überhaupt erst einmal erreichen“, so Sack.

Sack: Kein Interesse daran, Zahlen liegen zu lassen

Den Vorwurf eines absichtlichen Meldeverzugs bei den Zahlen weist Sack entschieden zurück: „Wir haben doch gar kein Interesse daran, die lange bei uns liegen zu lassen.“ Zudem gebe der Landkreis auf seiner eigenen Homepage „sehr klare“ Karten und Daten zum Infektionsgeschehen heraus. Er kenne die Datenbasis der Grünen nicht, mit denen diese ihre Vorwürfe zu untermauern versuchen, so Sack. Auch den Vorwurf, dass der Beginn des Meldeverzugs mit einer Personalie zusammenhänge, verneint der Landrat. „Die Stabsstelle gibt es schon seit dem Herbst letzten Jahres. Daran liegt es sicherlich nicht.“ Sack verwies stattdessen darauf, dass viele Sachbearbeiter „mittlerweile enorme Überstunden“ angehäuft hätten. Zudem sei viel zusätzliches Personal an Bord geholt worden, um die „dritte Welle“ zu meistern. 200 Personen seien mittlerweile mit Corona-Aufgaben betraut. Die schwierige Personalsituation sei auch der Grund, warum Anfragen zum Themenkomplex Corona nicht immer sofort beantwortet werden könnten.

Gesundheitsminister verspricht Aufklärung – Sack will juristische Schritte prüfen

Die Grünen haben mittlerweile verschiedene Ministerien gebeten, zu überprüfen, ob in der Angelegenheit eine Dienstpflichtverletzung des Landrats vorliegt. Gesundheitsminister Harry Glawe (CDU) hatte bereits angekündigt, den Vorwürfen nachgehen zu wollen. Er gehe davon aus, dass ein Missverständnis vorliege, so Glawe. Ob Sack gegen die massiven Vorwürfe der Grünen juristisch vorgehen will, ließ er gegenüber dem NDR offen: „Wir werden uns das in der nächsten Woche anschauen. Ich kann das noch nicht genau sagen. Wir werden das mit dem Rechtsamt prüfen, wie wir weiter vorgehen. Die Entscheidung ist noch nicht gefallen.“