„Und am Ende verlieren sie ihr Leben“Corona-Kollaps droht: In Brasilien zeigt sich, was passiert, wenn P.1 durchschlägt
6. April 202116:49:24
Ein Land steht vor dem Corona-Kollaps. Überlastete Intensivstationen, mehrere Tausend Tote pro Tag, Massengräber. In Brasilien zeigt sich, was passiert, wenn die Corona-Mutation P.1. durschlägt. Die Variante wurde auch in Deutschland nachgewiesen – und könnte sich auch hierzulande ausbreiten.
Vor dem Hospital Ronaldo Gazzola im Norden Rio de Janeiros liegen 30 Matten mit Leintüchern, mit Kopfkissen, mit Rosen. Die Matten sollen Krankenhausbetten versinnbildlichen, in denen Covid-19-Patienten behandelt werden. Jede Matte steht für 10.000 Tote. Mit den Blumen wird an diese Menschen erinnert.
Seit Ende März ist das Gesundheitssystem in Brasilien praktisch am Ende, denn die Versorgung ist vielerorts bereits zusammengebrochen. Das Land meldet am 31. März 2021 mit 3869 Toten pro Tag einen neuen Höchststand – wieder einmal.
Insgesamt starben in Brasilien 332.752 Menschen in Folge einer Sars-CoV-2-Infektion. Nur die USA verzeichnet mehr Tote. Was zunächst in der Amazonas-Metropole Manaus passierte, gilt nun beinahe für das ganze Land: Die Krankenhäuser sind überlastet und überfordert. In 24 von 26 Bundesstaaten sowie im Hauptstadtdistrikt Brasília ist die Lage auf den Intensivstationen in „kritischem Zustand“. Hunderte warten auf ein Bett oder sterben in der Schlange. Medikamente und Sauerstoff fehlen.
„Sie denken, sie verlieren ihren Geschmackssinn – und dann verlieren sie ihr Leben“
Die Stadt Manaus hob bereits im vergangenen Frühjahr Massengräber aus, wurde von einer extremen ersten Welle heimgesucht. Es gab unglaublich viele Tote. Die Bilder gingen um die Welt. Als „die Hölle von Manaus“ bezeichnete man in Brasilien, was in der Amazonasregion geschah – und was sich nun auf tragische Weise wiederholt. Die Stadt, in der zwischenzeitlich schon die Rede von Herdenimmunität war, steht erneut vor dem Corona-Kollaps. Und im restlichen Land ist die Situation ähnlich dramatisch.
Besonders betroffen sind mittlerweile Jüngere. „Die Leute gehen raus, weil sie denken, dass sie nur Geschmacks- und Geruchssinn verlieren“, sagt der Gesundheits-Sekretär des Bundesstaats São Paulo, Jean Gorinchteyn. „Und am Ende verlieren sie ihr Leben.“
Schuld an der Tragödie ist laut Experten unter anderem die Corona-Variante P.1. Die Mutation wurde bei Reisenden aus dem Amazonas-Gebiet im Januar nachgewiesen. „Diese neue Variante scheint eine größere Geschwindigkeit der Ansteckung zu haben. Die Fälle scheinen sich schneller zu entwickeln“, sagt der Epidemiologe Diego Xavier, der bei der brasilianischen Forschungseinrichtung „Fundação Oswaldo Cruz“ arbeitet.
Corona-Variante P.1 sorgte für Infektionsanstieg in Brasilien
Experten schätzen die Übertragungsrate von P.1 um einen Faktor 1,4 bis 2,2 höher als beim Wildtyp. Die Variante beinhaltet verschiedene Mutationen. Drei davon befinden sich am Spike-Protein und machen das Virus so besonders aggressiv und gefährlich: Mit diesem Protein kann ein Virus an die Zelloberfläche der menschlichen Zellen andocken. Werden sie verändert, erleichtern sie dem Virus den Eintritt in den Körper. Außerdem sorgen sie dafür, dass Antikörper nicht mehr an die Viruszellen binden können.
Das Virus lässt sich damit also nicht mehr so leicht neutralisieren, es entkommt zumindest teilweise der Immunantwort des Körpers. Man spricht hier von sogenannten „Immun-Escape-Mutationen“. Damit könnten die Forscher eine Erklärung für den erneuten Infektionsanstieg in Manaus und die rasante Verbreitung in ganz Brasilien gefunden haben.
Untersuchungen brasilianisch-britischer Wissenschaftler bestätigen diese Annahme. Ein Forscherteam hatte das Infektionsgeschehen in Manaus analysiert. Die Pandemiewellen in der Amazonas-Metropole sind bezeichnend, hatten sich dort laut einer im Januar erschienenen Studie doch bereits 76 Prozent aller Bewohner bis zum vergangenen Oktober infiziert. Das wiesen Forscher anhand von Blutproben nach.
Eigentlich hätte eine weitere Verbreitung des Virus damit gestoppt sein müssen, denn eine Herdenimmunität tritt in der Regel schon ab etwa 67 Prozent ein. Damit hätte ein zweiter Ausbruch zwar nicht verhindert, aber dennoch deutlich abgeschwächt werden sollen. Ende 2020 wurde die brasilianische Stadt jedoch von einer zweiten Welle heimgesucht. Dafür machen die Wissenschaftler drei Gründe aus.
Sie ermittelten, dass die Virusmutation P.1
- deutlich ansteckender ist
- sich häufiger einer Immunität entzieht und
- möglicherweise auch häufiger tödliche Verläufe zur Folge hat.
Eine gute Nachricht gibt es aber dennoch: Britische Forscher konnten in einer Preprint-Studie nachweisen, dass die neutralisierenden Antikörper nach einer Impfung gegen die P.1-Variante etwa gleich gut wirkten wie gegen die britische Variante B.1.1.7. Das gelte sowohl für die AstraZeneca-Impfung als auch für die mit dem Biontech-Vakzin. Im Vergleich zum Wildtyp des Coronavirus sei die Wirkung dieser Antikörper im Labor gegen P.1. etwa dreimal geringer.
Damit ist der Abfall also deutlich geringer als zunächst befürchtet. Bei der südafrikanischen Variante zeigten die Wissenschaftler, dass die Wirkung der Antikörper sieben- bis neunmal geringer war. Allerdings handelt es sich dabei bislang nur um Labor-Erkenntnisse. Wie sich die Wirkung der Impfstoffe im echten Leben verhält, ist bislang noch nicht bekannt. Dazu sind weitere Studien in der Bevölkerung notwendig.
Statistikerin: P.1 wird sich auch in Deutschland verbreiten
Die Variante wurde inzwischen auch in vielen anderen Ländern nachgewiesen, vereinzelt auch in Deutschland. Besonders betroffen ist Bayern mit 65 Fällen. Auch in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein gibt es erste Fälle. Es sei aber plausibel anzunehmen, dass P.1 sich mindestens so aggressiv ausbreite wie B.1.1.7, erklärte etwa Statistikerin Katharina Schüller. „Dafür spricht, dass das Verhältnis von P.1 zu B.1.1.7 in den Kalenderwochen 9 bis 12 zumindest grob in derselben Größenordnung bewegt“, so die Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Statistik.
Anfang des Jahres machte die britische Mutation B.1.1.7 nur einen kleinen Anteil der gemeldeten Corona-Fälle aus. Heute sind es nach RKI-Daten rund 80 Prozent. Die brasilianische Variante P.1 trägt laut Schüller im Augenblick vermutlich weniger als 0,1 zur Gesamtinzidenz bei. „Damit wäre man mit P.1 heute etwa dort, wo B.1.1.7 zu Jahresanfang war“, erklärt die Statistikerin.
Das heißt: In rund zwölf Wochen könnte P.1 ungebremst einen Inzidenzbeitrag von 100 liefern. „Vielleicht auch schon in 6 Wochen, wenn P.1 nochmal deutlich aggressiver ist“, so Schüller.
Brasilien verharmloste Virus zunächst
Zur Corona-Hölle in Brasilien beigetragen hat mit Sicherheit auch die anfängliche Verharmlosung des Virus. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro hatte die Gefahr durch das Virus anfangs abgetan. Zuletzt milderte der Rechtspopulist seinen Ton allerdings etwas ab.
Angesichts der dramatischen Corona-Lage liefert die deutsche Luftwaffe 80 Beatmungsgeräte in die Amazonas-Metropole Manaus. Auch die Beruhigungsmittel und Muskelblocker, die zur Intubation benutzt werden, gehen zur Neige, wie „BBC Brasil“ unter Berufung auf den Rat der Gesundheitssekretäre in allen Bundesstaaten meldete.
Der neue Gesundheitsminister Marcelo Queiroga sprach vom „Vaterland der Masken“, als er dazu aufforderte, die Mund- und Nasenbedeckung zu tragen. Immerhin. Gebannt ist die Gefahr damit jedoch noch lange nicht – weder in Brasilien noch anderswo. Zu befürchten bleibt, was Amazonas-Experte Lucas Ferrante dem „Spiegel“ sagte: „Brasilien ist eine Gefahr für die Weltgesundheit.“