Experten: Hohe Dunkelziffer bei Kindswohlgefährdung wegen Lockdowns
7. April 2021Die Zahl der Kindswohlgefährdungen in Mecklenburg-Vorpommern ist laut Behörden im Vergleich zu den Vorjahren in etwa konstant geblieben. Doch Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer während der Corona-Pandemie aus. Denn wegen des Lockdowns gebe es weniger Kontrollmöglichkeiten durch Jugendämter sowie Kitas, Schulen und Vereine.
Wie geht es den Kindern im Lockdown? Monatelang geschlossene Schulen und Kitas zehren bei Eltern, die Beruf und Familie vereinbaren müssen, an den Nerven. Doch wie haben sich die Straftaten im häuslichen Bereich gegen Kinder im Lockdown entwickelt? Die offiziellen Zahlen hierzu weisen im Vergleich mit den Vorjahren ein weitgehend konstantes Niveau bei Kindswohlgefährdungen aus, wie aus einer aktuellen Anfrage der Linksfraktion an das Sozialministerium hervorgeht. Dennoch gehen Experten von einer deutlichen Steigerung aus.
Opferambulanz Rostock: Deutlich mehr untersuchte Kinder
So hat etwa die Opferambulanz der Rostocker Rechtsmedizin – eine Anlaufstelle auch für Gewaltopfer im Kindesalter, die häufig von Jugendämtern und Kliniken genutzt wird – im vergangenen Jahr 159 Kinder untersucht – und damit rund 40 mehr als im Vorjahr, wie die Leiterin Verena Kolbe gegenüber dem NDR erklärt. Und noch etwas fiel der Rechtsmedizinerin auf. Im vergangenen Jahr sei die Hälfte der Hinweise auf körperliche und sexuelle Gewalt an Kindern von den Jugendämtern gekommen. In den ersten drei Monaten dieses Jahres dagegen nur ein Drittel. Der Verdacht: Dahinter könnte die fehlende Überwachung durch den seit Jahresbeginn andauernde Lockdown stecken. „Wir gehen davon aus, dass dies nur die Spitze des Eisberges ist und dass vieles hinter verschlossenen Türen bleibt“, so Kolbe.
Kinderhilfe-Ehrenvorsitzender: Gewaltspuren bleiben im Lockdown leichter verborgen
Auch der Ehrenvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, ist von einer hohen Dunkelziffer überzeugt. Die Monate des Lockdowns würden vieles im Dunkeln lassen, was vorher transparent war, so Becker. Denn wenn Kitas, Schulen, und Sport für Kinder geschlossen sind, dann würden „Gewaltspuren oder Wesensveränderungen bei Kindern“ auch weniger wahrgenommen. Becker verweist auf eine Europol-Studie, die klar aussage, dass seit Beginn der Corona-Pandemie die sexuelle Gewalt an Kindern europaweit drastisch gestiegen sei. Nur – und das sei das größte Problem – viele Fälle würden eben nicht festgestellt.
Kitas und Schulen als Anzeiger von Kindswohlgefährdung
Auch Rostock Sozialsenator Steffen Bockhahn (Linke) traut den offiziellen Zahlen nicht. „Das hat auch damit zu tun, dass die meisten Kinder lange Zeit nicht im Kindergarten und nicht in den Schulen waren. Diese Institutionen sind unsere stärksten Anzeiger von Kindeswohlgefährdung.“ Das sei auch normal, denn dort seien die Fachleute, die erkennen würden, ob es einem Kind gut geht oder ob das Kindeswohl gefährdet ist, so Bockhahn. „Es gibt durchaus begründete Hinweise darauf, dass die Anzahl der Misshandlung physischer und psychischer Art von Kindern im letzten Jahr zumindest nicht gesunken ist.“
Lockdown: Familien an den Grenzen ihrer Belastung
Familien, die schon länger betreut werden, fühlen sich durch den Lockdown oft mit ihren Probleme allein gelassen, kommen an die Grenzen ihrer Belastung, heißt es auch von Trägern ambulanter Jugendhilfe in der Hansestadt. Aber auch bisher intakte Familien fühlten sich häufig überfordert – und gerieten so ins Visier der Staatsanwaltschaft. „Die Beschuldigten, die bei uns im letzten Jahr aufgetaucht sind, waren oft untypische Beschuldigte, die vorher nie aufgefallen sind“, sagt Staatsanwaltschaftssprecher Harald Nowack. Viele hätten erklärt, dass sie aufgrund der Corona-bedingten Einschränkungen sowohl bei ihren Kindern als auch bei sich selbst Gereiztheit festgestellt hätten – „und dass es dann gelegentlich zu Körperverletzungshandlungen gekommen ist“, so Nowack weiter.
Netzwerk von Vertrauenspersonen schaffen
Mediziner und Kinderschützer warnen auch vor den psychischen Folgen für die Kinder und setzen auf ein dichtes Netz an Vertrauenspersonen. Idealerweise müsste es in jeder Kita und an jeder Schule entsprechende Beauftragte als Ansprechpartner geben. Außerdem setzen Kinderschützer auf aufmerksame Nachbarn und Verwandte, die körperliche und seelische Auffälligkeiten bei Kindern melden. Mit Denunziation habe das nichts zu tun.