Machtgerangel um die Bundesnotbremse

Machtgerangel um die Bundesnotbremse

11. April 2021 Aus Von mvp-web

Stand: 11.04.2021 13:04 Uhr

Der Bund will die Notbremse für strengere Corona-Auflagen vereinheitlichen. Doch die Pläne stoßen inzwischen auch auf Kritik: Der regionale Blick sei entscheidend, nicht ein bundesweites Schablonen-Regelwerk.

Seit Wochen und Monaten mahnt der Bund im Kampf gegen die Corona-Pandemie vor allem eines an: ein gemeinsames Handeln, alle müssen an einem Strang ziehen. Bei hohen Infektionszahlen sollen strengere Einschränkungen her. Doch bislang haben die Bundesländer bei den konkreten Corona-Maßnahmen das letzte Wort, schließlich setzen sie die Beschlüsse per Rechtsverordnungen um. Oder auch nicht. Und so gab es bislang statt einheitlicher Regelungen den oft kritisierten „Flickenteppich“, wo welche Auflagen einzuhalten sind.

Dem will die Bundesregierung nun künftig entgegenwirken: Aus der bereits beschlossenen Notbremse bei hohen Ansteckungszahlen soll die Bundesnotbremse werden – und damit eine gesetzliche Pflicht für die Länder, ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 100 an drei aufeinander folgenden Tagen die Einschränkungen wieder zu verschärfen. Dazu soll das Infektionsschutzgesetz entsprechend geändert werden.

Zunächst ernteten die Pläne viel positives Echo: Es gab ein grundsätzliches Ja aus der CDU und CSU, Zustimmung aus der SPD, die Grünen drängen auf die schnelle Umsetzung. Doch mittlerweile mehren sich auch Kritik und Einwände.

Ein „Misstrauensvotum“ gegenüber Ländern und Kommunen

Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, findet scharfe Worte für die einheitliche Notbremse. Sie sei „ein in Gesetz gegossenes Misstrauensvotum gegenüber Ländern und Kommunen“, sagte er der „Funke Mediengruppe“. Bundesweit festgeschriebene Regelungen sind aus Sagers Sicht nicht „das Gebot der Stunde, da in einer sich örtlich sehr unterschiedlich darstellenden Pandemie pauschales Agieren nicht treffsicher genug ist“.

Ein Argument, auf das sich in der Debatte um Corona-Auflagen auch immer wieder die Ministerpräsidenten gestützt haben. Bei der Auslegung der Regelungen müsse die Infektionslage vor Ort beachtet werden. Und neben den Ansteckungszahlen müssten auch weitere Faktoren ausschlaggebend sein, welche Einschränkungen nötig sind, betont Sager, etwa die Belegung der Intensivbetten und die Reproduktionszahl.

Sager hält es für fraglich, Corona-Maßnahmen per Bundesgesetz vorzuschreiben und dabei über den Kopf der Länder hinwegzuentscheiden: etwa bei der Schließung von Schulen, bei der angedachten nächtlichen Ausgangssperre, sollte die Sieben-Tage-Inzidenz von 100 überschritten werden. Außerdem würde die Bundesnotbremse die Modellversuche in einigen Regionen beenden, bei denen ausprobiert werden soll, wie Lockerungen auch bei höherer Inzidenz mithilfe von Test- und Impfstrategien umsetzbar sind.

FDP lehnt nächtliche Ausgangssperre ab

Auch die FDP stellt die regionalen Unterschiede in der Entwicklung der Pandemie über die einheitliche Notbremse. „Als Auslöser für massive Freiheitseinschränkungen ist eine schwankende Zahl, die auch nur politisch gegriffen ist, nicht geeignet“, warnte Parteichef Christian Lindner. Vor allem die nächtliche Ausgangssperre sei „unverhältnismäßig“:


Beispielsweise geht vom abendlichen Spaziergang eines geimpften Paares keinerlei Infektionsgefahr aus. Diese Bestimmung ist verfassungsrechtlich höchst angreifbar.


Eine ähnliche Tonlage schlägt die Linkspartei an. Mit den nächtlichen Ausgangssperren drohe ein „tiefer Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger, die nicht einfach en passant beschlossen werden kann“, schrieb der erste parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Jan Korte, in einem Brief an das Gesundheits- und das Innenministerium.

In dem Schreiben, aus dem die Nachrichtenagentur dpa zitierte, nennt Korte noch weitere Kritikpunkte: Während im privaten Bereich mithilfe der Notbremse massive Einschränkungen geplant seien, fehlten klare Vorgaben für große Unternehmen. Auch die vorgesehenen Regelungen für die Schulen nennt Korte widersprüchlich.

Auch die AfD lehnt die Bundesnotbremse ab. Sie fordert ein sofortiges Ende des Lockdowns – ein Ziel, das die Delegierten des AfD-Bundesparteitags erst gestern per Resolution nochmals unterstrichen.

Ministerpräsidenten pochen auf regionale Auslegung

Auch einige der Ministerpräsidenten wollen von den „regionalen Spielräumen“ bei den Corona-Regeln nicht abweichen. „Man braucht Entscheidungsspielräume, um auch auf die jeweilige besondere Situation in den Ländern reagieren zu können“, betonten der saarländische Landeschef Tobias Hans und Sachsens Ministerpräsident Michel Kretschmer (beide CDU) gegenüber dem Saarländischen Rundfunk.

Gerade für das Saarland würde die Bundesnotbremse eine Abkehr von den jüngst in Kraft getretenen Lockerungen bedeuten. Nach Ostern durften hier als Modellversuch Geschäfte und Gastronomie unter Auflagen wieder öffnen. Die Sieben-Tage-Inzidenz in dem Bundesland liegt laut Zahlen des Robert Koch-Institutes derzeit aber bei 117,4. Für seine Entscheidung, trotz steigender Inzidenz an den Öffnungen festzuhalten, wurde Hans bereits heftig kritisiert.

Geteiltes Echo aus Niedersachsen

Die Bundesländer „mitten in der Krise zu entmachten“, wäre „ein großer Fehler“, meint auch der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius. Der Bund besitze keine Expertise für Krisenbewältigung oder Krisenkommunikation. Und dort, „wo der Bund die Befugnisse hatte, hat er zum Teil kläglich versagt“, betonte der SPD-Politiker in der „Welt“ und spielte damit auf die Lücken in der Versorgung mit Impfstoffen oder der in der Pandemie notwendigen Schutzausrüstung an.

Deutlich entspannter hatte sich zuvor Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil über die mögliche Bundesnotbremse geäußert. Durch die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes komme die von Bund und Ländern bereits vereinbarte Notbremse jetzt ins Gesetz, sagte der SPD-Politiker in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. In seinem Bundesland würden die vereinbarten Maßnahmen eh „schon längst“ umgesetzt. Weil betonte:


Weder habe ich also ein Problem mit dem Inhalt, noch erwarte ich besondere Änderungen. Wenn die gesetzliche Regelung dazu führt, dass diese Maßstäbe künftig überall angewandt werden, ist dagegen aus niedersächsischer Sicht nichts einzuwenden.


Kretschmann kritisiert „Einheitswahn“

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg sprach gestern gar von einem „Einheitswahn“. Wichtig sei, dass man bei zentralen Dingen zusammenbleibe. Kleine Abweichungen spielten pandemisch keine Rolle, so der Grünen-Politiker. Solche Abweichungen lässt sein Bundesland etwa bei den Kontaktbeschränkungen zu. In Baden-Württemberg dürfen sich derzeit auch in Regionen mit hohen Inzidenzen zwei Haushalte mit bis zu fünf Personen treffen. Die Notbremse sieht jedoch vor, dass ab einer Ansteckungsrate von mehr als 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche nur ein Haushalt mit einer weiteren Person treffen darf.

Doch Kretschmann verteidigte die etwas lockereren Regelungen mit einem Beispiel: „Ein Ehepaar kann nur allein seine Kinder besuchen, sie sind aber zu Hause zusammen. Das ist jetzt pandemisch nicht groß der Unterschied.“

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller will ebenfalls an „der Verantwortung der Länder“ festhalten, die Bundesnotbremse umzusetzen, sollte das Gesetz „in dieser oder ähnlicher Form verabschiedet werden“. Der SPD-Politiker und Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz hadert vor allem mit der nächtlichen Ausgangssperre. Sie sei „mit Sicherheit kritisch zu hinterfragen“.

Forderung nach weiteren Corona-Hilfen

Und selbst diejenigen, die sich zunächst klar hinter die einheitliche Notbremse stellen, knüpfen diese nun an Bedingungen. Ebenso wie die Grünen fordert auch Mecklenburg-Vorpommerns Landeschefin Manuela Schwesig die schnelle Umsetzung. Doch sollte die Bundesnotbremse kommen, müssten damit weitere finanzielle Hilfen für die Wirtschaft verbunden sein, betonte die SPD-Politikerin gegenüber den Sendern RTL und ntv: „Wenn die Bundeskanzlerin in ein Bundesgesetz festschreiben will, dass über einem Inzidenzwert 100 bestimmte Bereiche geschlossen sind, wie zum Beispiel die Gastronomie, dann muss sie auch die Bereiche entschädigen. Die Überbrückungshilfen reichen nicht mehr aus.“

Und Arbeitsminister Hubertus Heil hat zusammen mit Finanzminister, Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz auch noch einen Ergänzungswunsch: die Testpflicht für Unternehmen. Die SPD fordert dies schon lange. Sie könnte nun über eine verschärfte Arbeitsschutzverordnung im Paket mit dem geplanten Infektionsschutzgesetz beschlossen werden. Das Problem: Die Union und auch die Arbeitgeber lehnen sie bislang ab.

Noch fehlt dem Bund für die geplante einheitliche Notbremse aber die gesetzliche Grundlage. Dafür muss das Infektionsschutzgesetz geändert werden. Darüber soll das Bundeskabinett am kommenden Dienstag abstimmen. Anschließend muss das Gesetz durch Bundestag und Bundesrat.