Top-Virologe ordnet ein  – Ansteckender, aber weniger tödlich: Kekulé erklärt, warum Delta-Panik übertrieben ist

Top-Virologe ordnet ein – Ansteckender, aber weniger tödlich: Kekulé erklärt, warum Delta-Panik übertrieben ist

24. Juni 2021 Aus Von mvp-web

Mutationen von Sars-CoV-2 sind besonders ansteckend. Doch solange die Immunität der Bevölkerung zunimmt, sind sie weniger gefährlich als ihre Vorgänger. Am Ende wird sich auch die Delta-Variante zu einem hoch infektiösen, aber harmlosen Erreger entwickeln.

Spannender hätte es kein Hollywood-Regisseur inszenieren können. Rund eineinhalb Jahre hat die Menschheit gegen ein schreckliches Virus gekämpft, fast vier Millionen sind dem lautlosen Killer zum Opfer gefallen. Dann endlich kommt der rettende Impfstoff, die Fallzahlen sinken und ein Happy End scheint zum Greifen nahe. Doch jetzt steigt der totgeglaubte Feind noch einmal aus der Kiste, als weiterentwickelte Mutante, die noch ansteckender und noch tödlicher ist als ihre Vorgänger.

Zur Abrundung der Dramaturgie gibt die WHO der Höllenbrut auch noch einen passenden, martialischen Namen: Die „Delta-Variante“. Die Delta Force ist, wie Kenner des Action-Kinos wissen, die legendäre Spezialeinheit der US Army, die bevorzugt aus der Luft zuschlägt und als unbesiegbar gilt.

Wer es mit einem angeblich so gefährlichen Gegner aufnimmt, kann sich mühelos als Held darstellen – egal wie die Schlacht am Ende ausgeht. Chinas Staatsepidemiologen brüsten sich damit, einen Ausbruch der „üblen Mutation“ in der 15-Millionen-Stadt Guangzhou innerhalb weniger Tage unter Kontrolle gebracht zu haben (tatsächlich gibt es Gerüchte über weitere Fälle in der umliegenden Provinz Guangdong, einschließlich der für den Welthandelt kritischen Hafenstadt Shenzhen).

Weniger erfolgreiche Corona-Helden, wie der britische Premier Boris Johnson und Portugals Regierungschef António Costa, werden nicht müde zu betonen, wie überraschend das Mutantenvirus über ihr jeweiliges Land hergefallen sei. Mit falscher Politik, so die Botschaft, habe so ein Naturereignis nichts zu tun.


Mehr zu Alexander Kekulé

Alexander S. Kekulé (62) ist Virologe, Epidemiologe und Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum Halle (Saale). Zu aktuellen Fragen der Wissenschaft schreibt der studierte Mediziner künftig regelmäßig an dieser Stelle und auf Twitter unter @AlexanderKekule.


Verbreitung nicht mehr zu stoppen – egal ob Gegner Alpha oder Delta heißt

Aus praktischer Sicht macht es jedoch keinen Unterschied, ob der Gegner Alpha, Delta oder sonst wie heißt. Spätestens seit sich aus dem ursprünglichen Wuhan-Typ die ansteckendere „G-Variante“ (B.1) entwickelt und – zunächst unbemerkt – in Norditalien massiv vermehrt hat, ist die Verbreitung des Pandemie-Virus Sars-CoV-2 nicht mehr zu stoppen.

Die in England im November entdeckte Variante Alpha (B.1.1.7) hatte im Vergleich zu B.1. eine etwa 50 Prozent höhere Ausbreitungsgeschwindigkeit und der aus Indien importierte Delta-Typ (B.1.617.2) ist wahrscheinlich noch einmal um dieselbe Größenordnung schneller.

Neue Varianten sind ansteckender, aber weniger gefährlich

Dass sich das erst kürzlich auf den Menschen übergesprungene Pandemie-Virus an seinen neuen Wirt anpasst und dabei ansteckender wird, hatten Fachleute schon lange vorhergesagt. Der Grund für diese Veränderung ist nichts anderes als die zunehmende Immunität der Bevölkerung: Je häufiger der Erreger auf immune Individuen trifft, desto effektiver muss er sich ausbreiten, damit die Epidemie nicht ins Stocken gerät. Das bedeutet aber auch: Solange die Immunität der betroffenen Population und die Ansteckungsfähigkeit des Virus parallel zunehmen, sind neue Varianten zwar ansteckender, aber dafür weniger gefährlich als ihre Vorgänger.

Am Ende dieser Entwicklung stehen die zwar hoch infektiösen, aber harmlosen Erreger von Erkältungskrankheiten, wie Schnupfen- oder gewöhnliche Coronaviren. Die Delta-Variante macht davon keine Ausnahme, ebenso wenig wie Beta (B.1.351) aus Südafrika, Gamma (B.1.1.248 oder P.1) aus Brasilien und die unzähligen weiteren Mutationen des Sars-CoV-2, die irgendwo auf der Welt auf ihren Auftritt warten.

Schwere Erkrankungen und Todesfälle durch Sars-CoV-2 nehmen nur dann zu, wenn viele Risikopersonen nicht immun sind und die antiepidemischen Maßnahmen (Masken, Schnelltests, Nachverfolgung, Vermeidung von Ansammlungen in Innenräumen) vernachlässigt werden – und zwar unabhängig davon, ob es sich um den ursprünglichen Typ B.1 oder eine als „bedenklich“ eingestufte „variant of concern“ wie Alpha oder Delta handelt.

Delta-Variante nicht verantwortlich, sondern Politik

In England steigen derzeit die Fallzahlen, weil man die Quarantäne für Einreisende aus Indien – einem bekannten Hochinzidenzgebiet – zu spät anordnete und Menschen mit indischen Wurzeln häufig unter beengten Bedingungen wohnen und arbeiten. Zudem wurden noch in der kalten Jahreszeit Restaurants, Pubs, Freizeitbetriebe und Schulen geöffnet. Möglicherweise wird es trotzdem nicht zu einem Anstieg der Todesfälle kommen, weil im Vereinigten Königreich bereits 60 Prozent der Erwachsenen vollständig und über 80 Prozent zumindest einmal geimpft sind.

Auch in Portugal ist nicht Delta, sondern die Politik für das aktuelle Wiederaufflammen der Epidemie verantwortlich. Aus Rücksicht auf den Tourismus wurden nach dem harten Lockdown bereits im April nahezu alle Maßnahmen zurückgenommen. Gaststätten und Kulturbetriebe durften mit halber Gästezahl öffnen und mussten erst um ein Uhr nachts schließen. Bei so viel Nachlässigkeit wären die Fallzahlen auch ohne die Delta-Variante wieder in die Höhe geschnellt. Da nur 26 Prozent der portugiesischen Bevölkerung vollständig und weniger als die Hälfte einmal geimpft sind, waren die jetzt erneut angeordneten, einschneidenden Kontaktbeschränkungen unvermeidbar.

Ausbreitung der Delta-Variante keine Konsequenzen für Maßnahmen

Auch in Deutschland wird sich Delta wahrscheinlich in den kommenden Monaten zur häufigsten Variante entwickeln. Für die notwendigen Gegenmaßnahmen hat dies jedoch keine Konsequenzen.

Die hierzulande hauptsächlich eingesetzten mRNA-Impfstoffe von Biontech und Moderna schützen auch vor Delta; ihre im Vergleich zur Alpha-Variante um etwa fünf Prozent verminderte Effektivität (88 Prozent statt 93 Prozent) spielt epidemiologisch keine Rolle. Menschen, die bereits eine Covid-19-Infektion durchgemacht haben, dürften sich mit Delta wahrscheinlich etwas häufiger anstecken als mit dem derzeit noch vorherrschenden Typ Alpha. Bei Geimpften und Genesenen wird die Erkrankung jedoch nahezu immer leicht verlaufen.

Masken- Schnelltests, Kontaktvermeidung auch im Herbst notwendig

Angesichts des schleppenden Impffortschritts werden wir auf konventionelle Gegenmaßnahmen auch im Herbst nicht verzichten können. Für den Einsatz von Masken, Schnelltests, elektronischer Nachverfolgung und die Vermeidung von Ansammlungen in Innenräumen ändert sich durch den Übergang von der Alpha- zu Delta-Variante jedoch nichts.

Ob bei einem möglichen Neuanstieg der Fallzahlen auch die Intensivbelegungen und Todesfälle wieder zunehmen, hängt ebenfalls nicht von der Delta-Variante ab. Entscheidend ist vielmehr der Immunstatus der erwachsenen Bevölkerung, insbesondere bei den über 50-Jährigen. Deutschland ist diesbezüglich deutlich schlechter aufgestellt als das Vereinigte Königreich und wahrscheinlich in einer ähnlichen Situation wie Portugal. Zwar sind hierzulande geringfügig mehr Menschen geimpft (32 Prozent vollständig, 51 Prozent einmal, Stand: 23. Juni 2021), aber dafür ist der Anteil der Genesenen (offiziell 4,5 Prozent) höchstens halb so hoch wie in Portugal, das zeitweise die höchste Corona-Inzidenz der Welt hatte.

Trotz steigender Inzidenz keine Zunahme der Sterblichkeit

Die beiden Staaten am Westrand Europas sind, dank politischer Fehlentscheidungen, zu unfreiwilligen Kanarienvögeln für den weiteren Pandemie-Verlauf geworden. Trotz steigender Inzidenz und vorherrschender Delta-Variante ist in Großbritannien und Portugal bislang keine Zunahme der Sterblichkeit durch Corona-Infektionen zu verzeichnen. Falls sich das in den kommenden Wochen ändern sollte, wäre klar, dass auch bei uns die Immunitätslage der Bevölkerung noch nicht ausreicht, um weitere Lockerungen zu verantworten. Es bleibt also mindestens so spannend wie in Hollywood – obwohl die Delta-Variante in der Rolle des Schreckgespenstes eine glatte Fehlbesetzung ist.