Corona-Kurve schlimmer als im Merkel-Modell? Statistikerin warnt vor falscher Panik
9. Oktober 2020
Bis zu 10.000 Neuinfektionen täglich prognostiziert RKI-Chef Lothar Wieler für den Fall, dass es Deutschland nicht sehr bald wieder sehr viel besser gelingt, die Infektionsketten im Land zu unterbrechen. Kanzlerin Merkel hatte vorvergangene Woche bereits vor mehr als 19.000 neuen Fällen in 24 Stunden gewarnt – zumindest bis Weihnachten.
Selbsternannte Datenspezialisten schlagen im Netz bereits jetzt Alarm: Demnach stiegen die Infektionszahlen aktuell schon stärker als es in Merkels abschreckender Hochrechnung auf Basis der Verdopplungszahlen der vergangenen drei Monate der Fall gewesen sei. Damals lag der 4-Tage-R-Wert bei 1,13, aktuell gibt ihn das RKI mit 1,17 an. Von einer angeblich noch schlimmeren Corona-Realität als im Merkel-Szenario ist zu lesen.
Schwankungen des R-Werts sind nicht ungewöhnlich
Die Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Statistik Katharina Schüller ordnet die Situation im Gespräch mit FOCUS Online deutlich anders ein – und warnt vor unbegründeter Panik.
Prognose-Modelle anhand von Daten weniger Tage aufzuspannen und mit dem aktuellen R-Wert hochzurechnen, sei aus statistischer Sicht hochproblematisch, wie sie erklärt. Denn: „Diese Berechnungen sind immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Der Reproduktionswert schwankt statistisch gesehen um 0,1 bis 0,2. Das ist normal.“
Neue FOCUS-Online-Serie: Die Corona-Erklärer
Die Corona-Pandemie bestimmt auch zehn Monate nach den ersten Fällen in Deutschland weiter das Geschehen auf der Welt. Bei FOCUS Online beantworten Infektiologe und Oberarzt Christoph Spinner, der Professor für Virologie Friedemann Weber und die Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Statistik Katharina Schüller gemeinsam mit Gesundheitsredakteurin Kristina Kreisel die wichtigsten Fragen – tagesaktuell, verständlich und wissenschaftlich fundiert.
Mit Blick auf die jüngsten Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) sei zwar davon auszugehen, dass der R-Wert momentan oberhalb des kritischen Werts von 1 liegt – das Virus sich also derzeit wieder stärker in der Bevölkerung verbreitet und sich wieder mehr Menschen anstecken. „Aber wie weit der R-Wert über 1 ist, ob wir gerade bei 1,1 oder 1,2 liegen – das ist seriös nicht genau zu sagen“, konstatiert Schüller.
„Deswegen halte ich es für relativ gewagt, jetzt schon zu behaupten, die Entwicklung sei schlimmer als in irgendeinem Trend berechnet. Wir müssen jetzt erstmal abwarten, die Zahlen beobachten und statistisch glätten – um dann sehen zu können, welche statistischen Schwankungen es gibt und ggf. auch einschätzen zu können, wie groß die sind.“ Panik hält sie ob der zumindest für Laien doch immens erscheinenden Zuwächse bei den Neuinfektionen daher bisher für nicht angebracht.
Zur Verdeutlichung des Einflusses des aus Sicht des statistisch tendenziell eher unbedarften Normalbürgers zu vernachlässigenden Unterschieds eines R-Werts von 1,1 oder von 1,2 rechnet die Statistikerin für FOCUS Online zwei Modelle für die Zeit bis Weihnachten hoch.
Das Ergebnis: Zwei Kurven, die schon auf den ersten Blick eklatant auseinander klaffen.
Für einen R-Wert von 1,1 pro 4-Tages-Zyklus ergibt sich bei einer durchschnittlichen Neuinfizierten-Zahl von 2401, wie sie in den vergangenen sieben Tagen laut RKI der Fall war, die folgende Staffelung:
- nach 4 Tagen: 2641 Neuinfektionen pro Tag
- nach 8 Tagen: 2905 Neuinfektionen pro Tag
- nach 3 Wochen: 3867 Neuinfektionen pro Tag
- nach 4 Wochen: 4679 Neuinfektionen pro Tag
- nach 8 Wochen: 9118 Neuinfektionen pro Tag
- nach zehneinhalb Wochen und damit zu Weihnachten: 13.349 Neuinfektionen pro Tag
Ändert sich der R-Wert minimal um 0,1, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Dann potenzieren sich die Infektionszahlen deutlich schneller und stärker. Schüller rechnet für einen R-Wert von 1,2 vor:
- nach 4 Tagen: 2881 Neuinfektionen pro Tag
- nach 8 Tagen: 3457 Neuinfektionen pro Tag
- nach 3 Wochen: 5974 Neuinfektionen pro Tag
- nach 4 Wochen: 8603 Neuinfektionen pro Tag
- nach 8 Wochen: 30.827 Neuinfektionen pro Tag
- nach zehneinhalb Wochen und damit zu Weihnachten: 63.923 Neuinfektionen pro Tag
Exponentielles Wachstum bedingt große Unterschiede
Entsprechend stark gehen in den vermeintlich so nahe beieinander liegenden Szenarien auch die Prognosen für Weihnachten auseinander:
- Bei einem angenommenen R-Wert von 1,1 berechnet Schüller dann 13.350 Neuinfektionen pro Tag.
- Bei einem angenommenen R-Wert von 1,2 ergeben sich erschreckende 63.920 Neuinfektionen pro Tag.
Erklären lassen sich diese gigantischen Unterschiede durch das unterstellte exponentielle Wachstum, das für die Corona-Pandemie angenommen wird. Es meint die Verdopplung der Fälle innerhalb eines gewissen Zeitraums. Ausgehend vom Ursprungswert steigen die Zahlen dann bei unterschiedlichen R-Werten unterschiedlich stark an; das heißt sie verdoppeln sich unterschiedlich schnell.
Hintergrund zum R-Wert: Die Reproduktionszahl
Die Reproduktionszahl beziffert, wie viele weitere Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Je niedriger der Wert, desto besser. Liegt die Reproduktionsrate bei mehr als 1, steckt ein Infizierter im Mittel mehr als einen anderen Menschen an – die Zahl der täglichen Neuinfektionen steigt also. Liegt der Wert unter 1, steckt ein Infizierter im Mittel weniger als einen anderen Menschen an. Das Infektionsgeschehen geht folglich zurück.
„Am Anfang verlaufen die Kurven noch relativ nah beieinander, aber schon nach zwei Wochen driften sie auseinander“, erläutert Schüller. Zahlenmäßig ist exponentielles Wachstum schwierig zu begreifen, tatsächlich ist die Zunahme der Fälle in diesem Maße aber genau das, was man durch die Corona-Maßnahmen zu verhindern versucht.
Statistikerin hält derart hohe Infektionszahlen für unwahrscheinlich
Aus diesem Grund hält Schüller Dimensionen von mehreren Zehntausend neuen Fällen täglich für eher unrealistisch. Sie erklärt: „Wir gehen bei den Prognose-Rechnungen ja davon aus, dass alles so weiter läuft wie bisher. Wenn wir so hohe Fallzahlen aber tatsächlich sehen würden, ist nicht anzunehmen, dass die Politik dem tatenlos zusehen wird.“
Maßnahmen wie etwa das erneute Schließen von Restaurants und Geschäften, Ausgangsbeschränkungen oder das Herunterfahren des Schulbetriebs würden die Entwicklung der Fallzahlen beim Eingreifen der Politik vermutlich schnell wieder massiv drücken können. Die Prognose-Modelle bilden das nicht ab.
Zahlen von heute sind nicht mit denen vom Frühjahr vergleichbar
Darüber hinaus warnt Schüller vor falschen Vergleichen der aktuellen Zahlen mit denen aus dem Frühjahr. Damals meldete das RKI zuletzt Rekordwerte bei den Neuinfektionen von mehr als 6000. Diesem Niveau nähern sich die Zahlen aktuell wieder an.
„Dennoch sind die Zahlen von heute damit nicht zu vergleichen“, sagt Schüller. So hätten die Gesundheitsämter im Frühjahr ausschließlich Menschen mit Symptomen und Kontakt zu nachweislich Corona-Positiven getestet. „Inzwischen testen wir aber auch viele Menschen, die keine oder nur leichte Symptome haben.“
Das heißt: „Wir erwischen mit den Tests heute einen viel, viel größeren Teil der Dunkelziffer der Infizierten als damals.“
Für den Mai geht Schüller dabei in etwa von einer Dunkelziffer von zehn aus: Von zehn tatsächlich Infizierten entdeckten Gesundheitsämter und Testlabore damals also nur einen einzigen.
Heute, fünf Monate später, schätzt Schüller die Dunkelziffer aufgrund der veränderten Teststrategie auf nur mehr das Dreifache der nachweislich Infizierten. „Das ist nur eine grobe Schätzung“, schränkt sie ein. Der tatsächliche Wert sei schwierig zu berechnen. „Aber das würde bedeuten, dass ein gemeldeter Fall aus dem Frühjahr drei gemeldeten Fällen von heute entspricht.“
Fallzahlen sind weniger alarmierend als sie auf den ersten Blick scheinen
Darüber hinaus gelinge es heute deutlich besser, Risikopatienten vor einer Infektion zu schützen – etwa weil Pflegepersonal in Senioren- und Pflegeheimen systematisch getestet würde. Schüller nennt das eine „große Errungenschaft“ der vergangenen Monate – „und deshalb würde ich trotz der scheinbar so dramatischen Entwicklung davor warnen, die derzeitigen Infektionszahlen zu überschätzen“.
Zwar seien Leichtsinn und Entwarnung in Sachen Pandemie genauso verfrüht. „Aber die Zahlen sind aus meiner Sicht nicht so alarmierend, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Eben weil sie anders zu bewerten sind als die aus dem Frühjahr.“
Trotzdem müssten die Daten zu Ansteckungen und zur Verbreitung des Virus in der Bevölkerung weiter beobachtet werden, betont die Statistikerin. Den R-Wert erachtet sie dabei als inzwischen deutlich weniger verzerrt als noch in den vergangenen Monaten.
Vor allem während des Sommers bei insgesamt erheblich geringeren Fallzahlen hatte dieser teils stark geschwankt. Lokale Ausbrüche zeigten sich deutlicher als heute, wo sich das Infektionsgeschehen deutschlandweit intensiviert hat. Mittlerweile gebe er die grobe Dimension der Pandemie-Entwicklung realistischer an, sagt Schüller.
Nur mehr Fälle wegen mehr Tests?
Den Vorwurf mancher, die Fallzahlen würden nur deshalb so stark steigen, weil mehr getestet würde, entkräftet sie. So hätten die Tests der Reiserückkehrer ab Beginn der Urlaubssaison im Juli die Zahlen durchaus beeinflusst. Weil mehr Menschen auch ohne Krankheitszeichen getestet worden sind, hätten die Labore auch mehr Infizierte entdeckt – die andernfalls unterhalb des offiziellen Corona-Radars geblieben wären.
„Heute sehen wir aber nicht nur einen Anstieg bei den Testzahlen, sondern auch bei dem Anteil der positiven Tests“, erklärt Schüller. „Das bedeutet, der Anstieg der gefundenen Fälle verläuft nicht mehr parallel zum Anstieg der Zahl der durchgeführten Tests. Wir beobachten also wirklich wieder mehr Infektionen und keinen Anstieg, der nur auf mehr Tests zurückzuführen wäre.“
Bislang besorgt das die Statistikerin nicht. Das Gesundheitssystem hält dem Aufkommen der schwer erkrankten Covid-19-Patienten stand. Dass sich die Deutschen weiterhin konsequent an die AHA-Regeln halten, regelmäßig lüften und kluge Risikoabwägungen treffen, ist allerdings die Voraussetzung dafür, dass sich das in den kommenden Wochen nicht ändert.