Ständig neue Rekordwerte: Sitzen wir Weihnachten doch wieder im Lockdown? Experten geben Prognose für Dezember
8. November 2021Die Corona-Fallzahlen klettern rasant. Die Krankenhäuser füllen sich, die Intensivmedizin warnt erneut vor einer Überlastung. Was bedeutet das für den zweiten Corona-Winter – und für Weihnachten?
Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Das führen die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) auch am Montagmorgen eklatant vor Augen: 15.513 Menschen haben sich neu mit dem Coronavirus infiziert. Im Vergleich zum Rekordwert von 37.120 am Freitag bricht die Zahl der übermittelten Fälle damit zwar deutlich ein. Allerdings ist es üblich, dass die Werte sonntags und montags am geringsten ausfallen. Der Grund: Viele Gesundheitsämter sind über das Wochenende nur eingeschränkt besetzt und melden zeitverzögert. Zudem finden am Wochenende in der Regel weniger Tests statt.
Einen neuen Rekordwert erreicht dafür die Sieben-Tage-Inzidenz. Sie liegt am Montag mit 201,1 höher als je zuvor. Was bedeutet das für den zweiten Corona-Winter und die Weihnachtszeit, die langsam, aber sicher näher kommt? Wir haben Experten nach ihrer Prognose gefragt.
1. Ralf Reintjes, Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Wie bewerten Sie die anziehenden Fallzahlen?
Die Entwicklung der gemeldeten Fallzahlen entspricht – angesichts des gesellschaftlichen Handelns der letzten Monate – den Erwartungen, wie ich es bereits seit einiger Zeit immer wieder in Interviews erläutert habe. Der Trend zeigt eine deutliche Steigerung, obwohl seit dem Wegfall der kostenlosen Schnelltests viel weniger getestet wird. Somit ist mit einer deutlich gesteigerten Dunkelziffer zu rechnen, was für ein noch größeres Infektionsgeschehen in der Bevölkerung spricht.
Wo stehen wir zu Weihnachten? Werden wir wieder nur im kleinen Kreis feiern können und Einschränkungen erleben?
Das hängt sehr von unseren gesellschaftlichen Entscheidungen und vom Handeln jedes Einzelnen ab. Wenn wir uns bewusst machen, in welcher Situation wir uns befinden – mitten in einer Pandemie, am Anfang von Herbst und Winter, der besten Zeit für die Übertragung des Virus – und entsprechend handeln, können wir das Niveau an Neuinfektionen begrenzen.
Wenn wir uns aber entscheiden, mit weiteren Lockerungen und ohne Nutzung aller Möglichkeiten zur Reduktion der Übertragung des Virus wie Impfen, Testen, Masken, Abstand und Kontaktreduktion weiterzumachen, werden wir vermutlich noch einige Zeit mit sehr hohen Infektionszahlen leben müssen, auch über Weihnachten. Das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung ist wie ein Tanker. Um den zu bremsen, braucht man einige Zeit. Die Grundlage für das Niveau des Infektionsgeschehens zu Weihnachten wird gerade gelegt.
Mit großen Feiern sollte man vorsichtig sein und besser bis zum Frühjahr warten. Dann wird sich die Situation wahrscheinlich stark verbessert haben. Jetzt steht uns aber der Winter noch bevor.
Rechnen Sie noch einmal mit einem Lockdown?
Das ist eine politische Entscheidung. Ich würde mir wünschen, dass wir nicht immer erst dann reagieren und angemessen handeln, wenn sich die Situation bereits zugespitzt hat und bereits unnötig viele Menschen schwer erkrankt oder gegebenenfalls gestorben sind. Dann lassen sich Lockdowns vermeiden.
2. Friedemann Weber, Professor für Virologie und Direktor des entsprechenden Instituts an der Justus-Liebig-Universität Gießen
Wie bewerten Sie die anziehenden Fallzahlen?
Ich finde die Zahlen sehr erschreckend, ein steiler Anstieg beziehungsweise Inzidenzen höher als vor einem Jahr, und bereits jetzt circa 280.000 aktive Fälle.
Wo stehen wir zu Weihnachten? Werden wir wieder nur im kleinen Kreis feiern können und Einschränkungen erleben?
Das ist schwer vorauszusagen. Wir haben gegenwärtig einen Mix aus leichten Maßnahmen und einer Impfquote von circa einem Drittel auf der einen Seite, aber die hochansteckende Delta-Variante, viele Millionen Ungeimpfte und eine nachlassende Moral auf der anderen Seite. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Kurve deswegen weniger robust in eine Richtung bewegt, sondern eher auf- und abgeht und sich eine Absenkung zum Beispiel aufgrund erhöhter Vorsicht und reduzierter Kontakte in der Bevölkerung zeigt.
Allerdings würde sich das wahrscheinlich auf einem gewissen Niveau abspielen und nicht ausreichen, um wirklich die Winterwelle zu brechen. Ohne deutlich verbesserte Impfquoten und möglichst auch Boosterungen werden wir schon vor Weihnachten mit erhöhten Einschränkungen rechnen müssen.
Rechnen Sie noch einmal mit einem Lockdown?
Ich hoffe sehr, dass das nicht nötig sein wird. Zumindest verschärfte Maßnahmen werden aber nicht vermeidbar sein. Und falls ein Lockdown kommt, dann sollte er zunächst auf Ungeimpfte, die ein Impfangebot erhalten hatten, beschränkt bleiben.
3. Timo Ulrichs, Infektionsepidemiologe und Professor für internationale Not- und Katastrophenhilfe an der Akkon Hochschule Berlin
Wie bewerten Sie die anziehenden Fallzahlen?
Dass die Neuinfiziertenzahlen so hoch gehen würden, hat mich überrascht. Aber leider sind immer noch nicht genug Erwachsene geimpft, um dem Virus in Zeiten bester Ausbreitungsmöglichkeiten weniger Angriffsfläche zu bieten. Es könnte sein, dass die Welle vorzeitig wieder zurückgehen wird, nämlich dann, wenn diese kritische Durchimpfung und Durchseuchung erreicht sein wird.
Wo stehen wir zu Weihnachten? Werden wir wieder nur im kleinen Kreis feiern können und Einschränkungen erleben?
Vollständig Geimpfte werden von Einschränkungen nicht betroffen sein – höchstens im Rahmen einer 2G+-Regelung, indem sie sich kurz vor einer Veranstaltung zusätzlich testen müssen. Das gilt auch für Weihnachten.
Für Ungeimpfte gilt das nicht: Bei ihnen ist die Weitergabe immer noch sehr wahrscheinlich – und damit auch die Infektion, Erkrankung und der schwere Verlauf. Deshalb sollte flächendeckend 2G eingeführt werden und darüber hinaus sollten die Kontakte der Ungeimpften stark eingeschränkt werden, im Sinne eines Lockdowns.
Wer die Möglichkeit des Eigen- und Fremdschutzes in Form einer Impfung nicht wahrnimmt, muss sich den anderen Maßnahmen unterziehen, die zur Eindämmung der Virusausbreitung etabliert und jetzt angesichts der vierten Welle notwendig werden.