Vierte Welle wütet: Knallhart-Appell! Top-Virologen wollen „Lockdown für ganz Deutschland“
26. November 2021Es sei nicht mehr kurz vor zwölf, es sei „mittlerweile halb eins“, sagt Gesundheitsminister Jens Spahn zur Corona-Lage in Deutschland. Braucht es jetzt einen Lockdown für Ungeimpfte – oder gar für alle? Führende deutsche Virologen und Epidemiologen sehen keinen anderen Ausweg.
Die vierte Corona-Welle, sie ist zum Tsunami geworden. 76.414 Neuinfektionen meldeten die deutschen Gesundheitsämter alleine am Donnerstag – mal wieder ein Rekordwert. Vor allem im Süden und Osten der Republik sind die Intensivstationen längst überlastet, teilweise müssen Patienten in andere Bundesländer verlegt werden. Am Donnerstag hat die Zahl der Corona-Toten in Deutschland die Marke von 100.000 überschritten. Und zu allem Überfluss bereitet eine neue, aggressive Virus-Variante aus Südafrika den Experten Sorgen.
Längst hat Deutschland die Kontrolle über das Virus verloren. Drastische Maßnahmen, die noch vor wenigen Wochen undenkbar erschienen, werden jetzt wieder zu validen Handlungsoptionen. In der Bundespressekonferenz am Freitag dachte der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) etwa laut über einen Lockdown nach – ohne das L-Wort in den Mund zu nehmen. „Die Zahl der Kontakte muss runter, deutlich runter“, sagte Spahn. „Es nützt alles nichts.“
Als konkrete Möglichkeiten nannte Spahn die Absage von Großveranstaltungen und Feiern sowie die konsequente Anwendung der „2G Plus“-Regel im öffentlichen Raum. Doch vielen renommierten deutschen Virologen gehen die angedachten Maßnahmen noch nicht weit genug. Sie fordern einen Lockdown für Ungeimpfte nach österreichischem Vorbild – oder gleich einen Lockdown für alle.
„Ein harter Lockdown wäre für alle das Beste“
„Wir müssen uns eingestehen, dass sich die vierte Welle ohne vollständigen Lockdown nicht mehr aufhalten lassen wird“, schrieb etwa Epidemiologe Alexander Kekulé von der Universität Halle-Wittenberg am Sonntag in seiner Kolumne für FOCUS Online. In der derzeitigen Lage gebe es nur noch wenige Optionen, um Ältere und Menschen mit schwachem Immunsystem vor einer Infektion zu schützen. „Diese Chance zu nutzen, muss oberste Priorität haben“, forderte Kekulé.
„Virologisch gesehen wäre ein harter Lockdown für alle jetzt das Beste“, empfiehlt auch Virologe Friedemann Weber von der Justus-Liebig-Universität Gießen im Gespräch mit FOCUS Online. Obwohl es sich vorrangig um eine „Pandemie der Ungeimpften“ handle, helfe nur ein Lockdown, um die Zahlen zu senken.
„Am effektivsten wäre ein Lockdown für ganz Deutschland“, fordert Weber daher, „denn auch lokale Lösungen werden nicht ausreichen. Klar ist, dass man mehr tun muss, als die Politik jetzt beschlossen hat.“
Lockdown: „Die Politik muss jetzt handeln“
„Wir werden um einen Lockdown für alle in der jetzigen Situation nicht herumkommen“, prophezeit auch der Virologe Martin Stürmer vom IMD Labor Frankfurt auf Nachfrage von FOCUS Online. „Der muss flächendeckend sein. Der Lockdown ist die einzige Maßnahme, die jetzt konsequent, schnell und bewährt die Zahlen nach unten bringen kann. 2G, 3G – alles andere können wir später diskutieren, wenn die Zahlen wieder runtergehen.“
Zwar sei es nach wie vor wichtig, die Impfquote in der Bevölkerung zu steigern, sagt Stürmer. Aber Maßnahmen wie eine Impfpflicht seien keine kurzfristige Hilfe. „Unser oberstes Ziel muss es sein, die Zahlen jetzt ganz, ganz schnell und radikal nach unten zu bringen“, sagt Stürmer. „Und das geht nur mit einem Lockdown.“
„Wir brauchen dringend eine Kontaktreduktion und die klare Nachricht, dass es sehr ernst ist“, mahnt der Epidemiologe Ralf Reintjes von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. „Jede Kontaktreduktion, ob von Geimpften oder Ungeimpften, trägt dazu bei, die Übertragung einzudämmen. In der jetzigen Situation sollten alle Beteiligten alle Kontakte auf das Nötigste beschränken. Bei hohen Inzidenzen wie aktuell ist das auch für Geimpfte geboten. Die Politik muss jetzt handeln.“
Deutschland erlebe gerade ein Déjà-Vu aus dem vergangenen Jahr, konstatiert Reintjes. „Wir warten und warten, obwohl die Zahlen so hoch wie nie sind. Der Anstieg ist noch nicht gestoppt. Dringendes Handeln ist geboten!“
Streeck plädiert für regional unterschiedliches Vorgehen
Für eine regionale Notbremse plädiert Virologe Hendrik Streeck von der Universität Bonn. Man müsse „unterschiedlich hart in den verschiedenen Regionen vorgehen“, sagte Streeck zu FOCUS Online. „Dazu gehört in einigen Regionen die dringende Empfehlung zur starken Kontaktbeschränkung, Absage von Großveranstaltungen, Schließung von Bars und Clubs. Es wurde hier einfach zu spät reagiert. Je höher die Infektionszahlen werden, desto härter muss man dagegen vorgehen.“
Einen Hoffnungsschimmer gebe es aber, so Streeck: „Der R-Wert, der anzeigt, wie viele Menschen ein infizierter Mensch ansteckt, geht seit Tagen zurück und es ist zu hoffen, dass sich dies auch bald in den Infektionszahlen bemerkbar macht.“
„Wir sind schlimmer dran als vor einem Jahr“
Der Infektionsepidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule Berlin spricht sich ebenfalls für konsequente Maßnahmen aus. „Jetzt ist es so, dass wir in eine Situation hineinlaufen und wahrscheinlich nur noch der Lockdown die Trendwende bringen wird“, sagte Ulrichs zu FOCUS Online. „Wir müssen also möglicherweise tatsächlich diese Notbremse betätigen. Etwas anderes bleibt eigentlich nicht mehr richtig übrig.“
„Wir sind schlimmer dran als vor einem Jahr“, sagte der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité Mitte November in seinem Podcast im Norddeutschen Rundfunk (NDR). „Das liegt auch daran, dass Kontakte nicht eingeschränkt wurden.“
Mittel- und langfristig sei der Ausweg aus der Pandemie klar: „Wir müssen die Impflücken schließen.“ Das „ideelle Ziel“ müsse „eine dreifach komplett durchgeimpfte Bevölkerung“ sein. Darauf könne man angesichts volllaufender Intensivstationen aber nicht warten. Kurzfristig müsse man wieder Maßnahmen diskutieren, „die wir eigentlich hofften, hinter uns zu haben“, sagte Drosten. Er erwarte einen sehr anstrengenden Winter „mit neuen, sagen wir ruhig: Shutdown-Maßnahmen“. Maßnahmen wie 3G oder selbst 2G reichten vermutlich nicht aus, um angesichts der Delta-Variante die Zahl der Infektionen genug zu senken.
„Wir brauchen eine massive Reduktion der Kontakte – jetzt sofort“, forderte Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, bei der Bundespressekonferenz am Freitag in Berlin. „Ich erwarte jetzt von den Entscheidern, dass sie alle Maßnahmen einleiten, um gemeinsam die Fallzahlen herunterzubringen“, sagte Wieler. „Der kommende Winter hängt von unserem Verhalten ab und von der Entscheidung der Verantwortungsträger, kontaktreduzierende Maßnahmen zu erlassen.“ Er verstehe nicht, was noch geschehen müsse, „damit wir davon überzeugt sind, dass wir alle verfügbaren Maßnahmen einleiten müssen, um diese vierte Welle zu brechen“.