Corona wütet in deutschen Altenheimen: „Das zu erleben, wünsche ich niemandem“

9. November 2020 Aus Von mvp-web
Sie haben durch Corona nicht nur einen Menschen verloren, sondern auch gemeinsame Zeit. Angehörige und Bewohner von Seniorenheimen haben oft mehr Sorge vor einer Isolation als vor dem Virus. Heimleitungen stehen vor einem inneren Konflikt.

Der Weg ins Seniorenheim St. Nikolaus endet vor verschlossenen Glastüren – so, als wolle man der zweiten Corona-Welle den Weg versperren. Die erste Welle drang mit voller Wucht in das Heim am Rande der Würzburger Innenstadt. Zu einer Zeit, in der Deutschland weder Maskenpflicht noch Mindestabstand kannte.

Zehn Wochen später sind nicht nur Kranken-, sondern auch Leichenwagen vorgefahren. 25 der damals 165 Bewohner sterben an Covid-19. Darunter ein 83-Jähriger – er gilt als das erste Corona-Opfer im Freistaat.

34 von 40 Bewohnern infiziert

„Das zu erleben, wünsche ich niemandem“, resümiert Annette Noffz, Stiftungsdirektorin vom Würzburger Bürgerspital, das Träger von St. Nikolaus ist. Doch was passiert, wenn Corona im Heim ankommt, erfahren in diesen Tagen mehrere Einrichtungen.

In einem Pflegeheim in Berching in der bayerischen Oberpfalz sind fünf Bewohner nach einer Corona-Infektion gestorben, sieben lagen am Freitag im Krankenhaus. Im Münchner Vorort Markt Schwaben sind fast alle der Bewohner mit dem Coronavirus infiziert, 34 von 40. In Ochsenfurt im Landkreis Würzburg lagen am Freitag 89 positive Testbefunde von insgesamt 109 Bewohnern und Mitarbeitern vor. Am Mittwoch starb dort ein an Covid-19-Infizierter, der schwer vorerkrankt gewesen sein soll.

Wie viele Bewohner aus Alten- und Pflegeheimen alleine im schwer getroffenen Bayern derzeit an Sars-CoV-2 erkrankt sind, kann das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) nicht genau sagen. Die Zahlen schließen auch Unterbringungen beispielsweise in Obdachlosen- oder Gemeinschaftsunterkünften ein. Demzufolge waren mit Stand vom letzten Mittwoch rund 40 Prozent der Corona-Todesfälle Bewohner einer Unterbringung in Bayern. Hinzu kommt infiziertes Personal.

Das Martinsfest muss ausfallen

Die Corona-Ampel in Würzburg ist Ende Oktober auf Dunkelrot gesprungen. St. Nikolaus betreten darf nur, wer sich vorher angemeldet hat. Im Eingangsbereich zieht der Geruch von Desinfektionsmittel durch den Mund- und Nasenschutz. Frau Fürst, eine Bewohnerin, sitzt in ihrem Rollstuhl in einem großen Raum.

Vor einem Jahr wurde hier mit Physiotherapeuten trainiert. Längst sind die Fitnessgeräte in die Ecken geräumt. Am 11.11. hätten hier Kinder zu Sankt Martin gesungen. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie genauso undenkbar, wie das Herbstfest mit Zwiebelkuchen, Federweißer und Musik.

Ein Fenster ist geöffnet. Vier Tische verteilen sich auf der Fläche, an den beiden Längsseiten gelbe Markierungen für je einen Stuhl – eine Seite für einen Bewohner, die andere Seite für einen Besucher – mehr als 1,5 Meter Abstand. Frau Fürst darf in dem Besucherraum eine Person für eine Stunde am Tag empfangen. Bis sich die Lage wieder beruhigt, soll nur dieselbe Person kommen. Maske nicht abnehmen, keine Umarmungen.

Die Angst vor dem Unbekannten

Nur Hochbetagte und körperlich eingeschränkte Bewohner können in ihren Zimmern besucht werden. „Demenzerkrankte vergessen, dass sie in ihrem Zimmer bleiben sollen“, sagt Heimleiterin Miriam Preuß. „Wir haben uns sehr bemüht, in Einzelbetreuung verschiedene Aktivierungs- und Beschäftigungsangebote im Zimmer stattfinden zu lassen.“

Frau Fürst hat vier Kinder, mehrere Enkel und zwei Urenkel. Sie habe Verständnis für die Regelung. „Ich bin froh, überhaupt jemanden sehen zu können.“ Denn die 76-Jährige gehört zu den Bewohnern, die im Frühjahr Corona überlebten.

„Schlimm“ beschreibt sie diese Zeit und meint damit weniger ihren Krankheitsverlauf, der mit Symptomen wie Geruchs- und Geschmacksverlust und ohne Fieber mild verlief. Belastender sei die Angst vor dem neuartigen Virus gewesen. „Menschen, die nur noch mit Maske und Ganzkörperanzügen ins Zimmer kamen, waren komisch. Du weißt gar nicht mehr, wer sich dahinter verbirgt, erkennst sie nur noch an der Stimme“, sagt Fürst.

Lieber tot als einsam

Hinzu kam der Umzug aus ihren vertrauten Räumen in ein neues Zimmer. Denn wegen der vielen Todesfälle trennte das Heim die Covid-19 positiv getesteten von den negativ getesteten Bewohnern. Wochenlang saß sie dort alleine, ohne Besuch. Zehn Kilo habe sie in dieser Zeit abgenommen.

Wochenlange Isolation – das darf es nicht noch einmal geben, sagt Heimleiterin Miriam Preuß und hat dabei den Satz eines Bewohners im Kopf, der ihren „harten inneren Konflikt“ widerspiegelt: Er sterbe lieber an Corona, bevor ihn keiner mehr in den Arm nimmt. Auf der einen Seite Bewohner vor Corona schützen, auf der anderen Seite vor Einsamkeit.

„Der Besuch muss möglich bleiben“

Die Hand eines geliebten Menschen beim Sterben halten, sei es durch einen Angehörigen oder einen Seelsorger, hat für Preuß Vorrang. In St. Nikolaus durften daher mit Corona infizierte Bewohner besucht werden. „Der Besuch muss in diesem Fall mit dem Gesundheitsamt abgesprochen werden und es muss eingewilligt werden, sich danach in Quarantäne zu begeben“, sagt Preuß. Andere Heime sind strikter und erteilen Besuchsverbot.

„Der grundlegende Besuch in Altersheimen muss möglich bleiben“, sagte Heinrich Bedford-Strohm, bayerischer Landesbischof und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Deutschen Presse-Agentur. Sterbebegleitung sei fundamental. „Es ist klar: Wenn Menschen sterben, müssen sie Begleitung bekommen.“ Pflegeheimleitungen sollten in dieser Abwägung immer denen den Vorrang geben, „die nicht alleine sterben wollen“.

Personal „am Limit“

Mittlerweile sieht man sich in St. Nikolaus mit ausreichend Masken und weiteren Schutzmaterialien gut gerüstet. In regelmäßigen Abständen werden Reihentests bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchgeführt. „Wir haben eine Mitarbeiterin, die nichts anderes macht, als Schutzanzüge, Masken, Handschuhe etcetera einzukaufen“, erzählt Noffz.

Die Stiftungsdirektorin vermeidet seit der ersten Welle, wenn möglich, direkte Kontakte – genau wie Heimleiterin Preuß. „Wer das erlebt hat, nimmt sich freiwillig zurück“, sagt Preuß. Sie spreche auch für ihr Personal, das im Frühjahr „aufopfernd“ und „am Limit“ gearbeitet habe. Damit sowas nicht mehr vorkommt, hegen alle denselben Wunsch: Corona vor der Tür lassen.