Eiskunstlauf: Zu viel für ein Kind
18. Februar 2022Nach der Aufregung um ihren Dopingfall misslingt der russischen Eiskunstläuferin Kamila Walijewa die Kür – sie wird Vierte. Als sie aus der Halle verschwindet, sagt sie nur: „Lasst mich gehen, lasst mich gehen!“
Zu viel für ein Kind
Das Eis glitzerte, die fünf Ringe prangten auf der Bande, und die Journalisten hatten sich schon fünf Stunden vor Beginn die besten Plätze auf der Tribüne der Capital Indoor Arena gesichert. Eiskunstlauf steht immer im scharfen Scheinwerferlicht der Olympischen Spiele, und auch am Donnerstag sah es auf den ersten Blick nach einer Kür aus, wie sie alle vier Jahre im Winter vorkommt; trotz der wieder nur spärlich besetzten Ränge in Peking. Und doch war dieses Finale wegen seiner Hauptperson, Kamila Walijewa, einmalig in seiner Absurdität und Fragwürdigkeit.
Am späten Abend, als Kamila Walijewa übers Eis stolperte, als sie weinend, nervlich zerrüttet und vernichtend geschlagen, die Arena als Vierte ohne Medaille verließ, blieb der Zweifel, ob ihre Starterlaubnis trotz eines positiven Dopingtests die richtige Entscheidung war. Kamila Walijewa ist 15 Jahre alt, selten hat eine Eiskunstläuferin so im Brennglas der Weltöffentlichkeit gestanden, schon gar nicht in derart jungen Jahren.
In der Dopingprobe der russischen Europameisterin vom Dezember war das verbotene Herzmittel Trimetazidin analysiert worden, bekannt wurde dies aber erst während der Peking-Spiele. Der Sportgerichtshof (Cas) entschied am Montag im Eilverfahren, dass Walijewa laufen durfte.
Die Tumulte der vergangenen Woche hatten die 15-Jährige eingeholt, das sah jeder während dieser auch für die Zuschauer quälend langen Vierminutenkür
Das Startrecht wiederum rief weltweit Proteste unter den Athletenkollegen hervor – und das Internationale Olympische Komitee (IOC) verschärfte die Kontroverse sogar noch. Es wollte dem Wettbewerb sogar die Validität absprechen: Falls die dopingpositiv getestete Russin auf einen Medaillenrang gesprungen wäre, hätte es weder eine Medaillenzeremonie noch eine Siegerehrung gegeben. Die Cas-Richter argumentierten mit der besonderen Schutzwürdigkeit einer Minderjährigen; vermutlich wäre der Schutz größer gewesen, hätte man ihr diesen Auftritt erspart.
Denn als Donnerstagnacht die letzten Töne von Maurice Ravels „Bolero“ verklangen, da war für jeden in der Halle ersichtlich, dass die Tumulte der vergangenen Woche die 15-Jährige eingeholt hatten in dieser nun auch für die Zuschauer quälend langen Vierminutenkür.
Sie ging als Letzte aufs Eis, als die Beste nach dem Kurzprogramm. Alle ihre Rivalinnen hatten schon vorgelegt: Zunächst Alexandra Trussowa, 17, ihre Trainingskollegin in der Eislaufschule von Eteri Tudberidse in Moskau. Trussowa vollführte ein Feuerwerk von Vierfachsprüngen, fünf dieser Höchstschwierigkeiten nagelte sie aufs Eis, sauber, kühl, mit staunenswerter Präzision, insgesamt hatte sie 251,73 Punkte erarbeitet.
Die nächste aus der Tutberidse-Schule war Anna Schtscherbakowa, 17, die aktuelle Weltmeisterin, die ebenfalls vierfach springt, aber es bei zwei dieser Luftnummern beließ. Sie verband Technik und Grazilität der Bewegungen zu einem harmonischen Ganzen und verdrängte Trussowa mit 255,95 Punkten vom ersten Platz.
Trost von der Trainerin? Nichts da. Stattdessen küppelharte Kritik: „Warum hast du alles so aus den Händen gegeben?“
Und dann kam Kamila Walijewa, mit 15 bereits Europameisterin. Sie strauchelte unter den Augen der strengen Tutberidse beim ersten Element, dem Vierfachsalchow, landete zwar beim Dreifachaxel, aber dann stürzte sie bei einem weiteren Vierfachsprung. 141,93 Punkte gaben die Preisrichter für die Kür, 224,09 waren es insgesamt, das war nur der vierte Platz hinter der Japanerin Kaori Sakamoto, die noch Dritte wurde. Fassungslos nahm die geschlagene Russin das Urteil entgegen.
Von ihrer Trainerin konnte sie trotz der nervlichen Belastungen der vergangenen Tage keinen Trost erhalten, sondern hörte harsche, verstörende Kritik: „Warum hast du alles so aus den Händen gegeben? Warum hast du aufgehört zu kämpfen? Erklär mir das! Nach dem Axel hast du es aus den Händen gegeben“, rügte Tutberidse, wie auf Videos zu vernehmen ist.
„Ich hasse diesen Sport!“, empörte sich die Silber-Gewinnerin Trussowa
Aber auch die Silber-Gewinnerin Trussowa war außer sich. „Ich hasse jeden! Ich hasse! Ich will keinen Eiskunstlauf mehr machen, nie mehr im Leben!“, rief sie durch die Halle, auch dies auf Videos aufgezeichnet. Sie war der Meinung, den Olympiasieg mehr verdient zu haben als die neue Gold-Medaillengewinnerin Anna Schtscherbakowa.
Während Walijewa in den Katakomben der Arena verschwand, wurde auf der Eisfläche doch noch schnell der Teppich ausgerollt für die drei Medaillengewinnerinnen. Statt der Favoritin standen dort nun zwei andere Schülerinnen Tutberidses, in die Fahne des russischen Olympischen Komitees eingehüllt.
Sie sei überwältigt, sagte die schmale Anna Schtscherbakowa später bei der Pressekonferenz: „Aber ich spüre auch eine Leere in mir. Ich habe alles gegeben und kann nicht mehr.“ Die Kür der unglücklichen Walijewa hatte sie am Monitor verfolgt, und vom „ersten Sprung an gesehen, unter welcher Last sie steht, wie schwierig es ist, unter diesen Bedingungen anzutreten“. Auf die Frage, ob es ein fairer Wettkampf war, antwortete sie ausweichend: „Fair? Sorry, darüber rede ich nicht.“
Dafür waren anderer in ihrem Urteil umso klarer. Die frühere Eiskunstläuferin Katarina Witt, heute ARD-Expertin, sah in der sonst so souveränen, brillanten Walijewa am Donnerstag „nur einen Schatten“ ihrer selbst. „Sie konnte nicht gewinnen in diesem ganzen Spiel. Das, was jetzt passiert ist, ist das Allerschlimmste. Sie ist daran zerbrochen“, analysierte die emotionalisierte zweimalige Olympiasiegerin. Eine 15-Jährige sei „der Welt zum Fraß vorgeworfen“ worden. Irgendein Verantwortlicher „hätte sie rausnehmen müssen, bevor überhaupt dieser Tsunami losging“, sagte Witt.
„Lasst mich gehen, lasst mich gehen!“, flehte Walijewa, als sie die Halle verlassen wollte
Zu den Verantwortlichen gehört neben den internationalen Sportorganisationen der Trainerstab in der Moskauer Eislaufschule Sambo-70. Der Fokus wird sich in den kommenden Wochen und Monaten nun zwangsläufig auf Tutberidse und ihre Kollegen richten. Denn der Code der Antidopingagentur Wada sieht vor, dass bei Positivtests von Minderjährigen streng das engere Umfeld auszuleuchten ist, und der Fall Walijewa ist längst noch nicht abgeschlossen.
Zu klären ist noch immer die Frage, wie das verbotene Herzmittel Trimetazidin und zwei weiter erlaubte Mittel, die Substanzen L-Carnitin und Hypoxen, in den Körper der 15-Jährigen gelangten. Ein solcher Mix könne möglicherweise darauf abzielen, die Ausdauer zu erhöhen, Ermüdung zu reduzieren, vermuten Experten wie Travis Tygart, Chef der US-amerikanischen Antidopingagentur.
Die russische Verteidigung führt hingegen den Großvater Walijewas in Feld und verweist auf ein familiäres Missgeschick: Demnach muss der Opa, der ein künstliches Herz hat, mitunter das Mittel Trimetazidin einnehmen; dabei könne das Medikament auf verschiedenen Wegen in Walijewas Blut gelangt sein, etwa über ein Glas, aus dem beide tranken. Beweise für diese These gibt es bislang nicht. Trimetazidin ist im Spitzensport nicht unbekannt, die Skepsis bei dieser, gelinde gesagt, interessanten Argumentation, daher groß. Viel zitiert wurde dieser Tage unter anderem ein Auszug aus einem Fernsehgespräch mit Tutberidse aus dem Jahr 2019, in dem sie sagte, dass man nach dem Verbot des Herzmittels Meldonium nach einem neuen, vergleichbaren Stoff gesucht habe.
Die Trainerin hat nun bei drei Olympischen Winterspielen Goldmedaillengewinnerinnen hervorgebracht: Julia Lipnizkaja, die 2014 als 15-jährige 2014 im Team gewann, Alina Sagitowa, die 2018 ebenfalls mit 15 triumphierte, und nun Anna Schtscherbakowa. Ihre Vorgängerinnen beendeten die Karriere, bevor sie volljährig waren. Ob Schtscherbakowa zu Olympia zurückkehrt, ist ebenfalls fragwürdig: „Ich weiß nicht“, sagte sie, „ob ich 2026 noch dabei bin.“