Krieg in der Ukraine „Ukraine will Gunst der Stunde nutzen“

Krieg in der Ukraine „Ukraine will Gunst der Stunde nutzen“

8. April 2022 Aus Von mvp-web
Nach dem Rückzug aus Kiew formiert Russland seine Truppen im Osten und Süden neu. Militärexperte Gressel erklärt, wie die Ukraine reagieren kann, was die Stadt Cherson entscheidend macht – und warum die Kämpfe noch lange dauern könnten.

tagesschau.de: Kiew ist nicht mehr umstellt, die russischen Truppen sind von dort abgezogen. Welche Planänderung Russlands steckt dahinter?

Gustav Gressel: Russlands Kräfte hätten selbst nach einer Neuaufbietung nicht gereicht, um Kiew einzunehmen. Daher gab es keine Offensive mehr – von einem Abzug war zunächst aber noch nicht die Rede. Um Kiew wurden Verteidigungsstellungen und ein Eingraben vorbereitet, um das Gebiet zu halten – und bei späteren Verhandlungen als Druckmittel verwenden zu können. Die Ukrainer haben diese Gelegenheit zu einem Gegenangriff genutzt. Der kam schnell voran, östlich und westlich sind die russischen Linien schnell zusammengebrochen, man hat die Stellungen fluchtartig geräumt.

Um Sumy und Tschernihiw war der russische Rückzug viel kontrollierter – aber das waren nur Vorbereitungsstellungen, die den Nachschub nach Kiew sichern sollten und keinen großen militärischen Eigenwert besaßen. Zum anderen haben die Russen Kräfte abgezogen, um sich neu aufzustellen. Diese Ausdünnung hat sehr zum ukrainischen Erfolg beigetragen.

Zur Person

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Affairs in Berlin.

„Der Krieg wird noch länger dauern“

tagesschau.de: Deutet das darauf hin, dass Russland nun alles auf ein Kampfende zum 9. Mai anlegt, der dort alljährlich als „Tag des Sieges über den Faschismus“ begangen wird?

Gressel: Bis zum 9. Mai schafft Russland noch eine größere Offensive – aber ich glaube, dass der Krieg noch länger dauern wird. Denn wenn ich mir die russische Propaganda ansehe, ist das Ziel, die Ukraine als ganzes zu unterwerfen, noch nicht vom Tisch. Es ist gut möglich, dass Russland es im Sommer erneut versucht.

Die Umorientierung auf den Donbass ist eine operative Entscheidung der militärischen Führung, die aber noch keine endgültige Umorientierung der russischen Kriegsziele bedingt. Russland könnte versuchen, die ukrainischen Streitkräfte langsam zu ermatten.

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

„Ukraine zunehmend auf Lieferungen angewiesen“

tagesschau.de: Ein Ermüdungskrieg gegen die Ukraine setzt voraus, dass Russland sowohl auf umfangreiche militärische Ausrüstung und auch auf die Truppenstärke zurückgreifen kann. Wie steht es momentan um die Kräfte auf beiden Seiten?

Gressel: Bei der Manpower sind die Ukrainer im Moment noch im Vorteil, weil sie mehr Freiwillige auf ihrer Seite haben. Beim Militärgerät ist Russland im Vorteil, weil das Land größere Lagerbestände hat – selbst wenn einige davon unbrauchbar sind, sind sie schlicht so groß, dass man den Krieg immer wieder ergänzen kann.

Man sieht die Strategie des Ermattungskriegs auch jetzt an den russischen Luft- und Marschflugkörperschlägen: Die richten sich vor allen Dingen gegen Öldepots, gegen Firmen, die Munition fabrizieren, Fahrzeuge und Fahrzeugwartung – die ganze Instandsetzungskette.

Das Ziel ist, die ukrainischen mechanisierten Reserven möglichst zu lähmen und zu verhindern, dass sie wieder frische Kräfte aufstellen und Reserven bilden können. Wenn Russland das nämlich lange genug kann und die Ukraine nicht, könnte Russland den Krieg gewinnen – zwar nicht auf militärisch elegantem Weg, aber man käme ans Ziel.

Droht der Ukraine ein Nachschubproblem?

tagesschau.de: Was würde das für die ukrainischen Streitkräfte bedeuten?

Gressel: Wenn wir von einem Ermüdungskrieg sprechen, ist der nicht am 9. Mai beendet, sondern kann sich bis in den Sommer oder bis ins nächste Jahr hineinziehen. Dann hätte die Ukraine einige Nachschubprobleme. Denn durch die Zerstörung der eigenen Rüstungsindustrie ist sie zunehmend darauf angewiesen, dass der Westen liefert – da ist natürlich auch die Frage: Inwieweit ist der Westen weiterhin bereit, der Ukraine mehr zu liefern, und das vor allen Dingen auch langfristig? Und in welcher Quantität, in welcher zeitlichen Staffelung?

Einige Systeme, mit denen sich die ukrainische Armee schon auskennt, kann man natürlich schnell liefern. Das ist vor allen Dingen sowjetisches Gerät aus Staaten des früheren Warschauer Pakts, aber dessen Menge ist begrenzt. In einigen Systemen – etwa in der Flugabwehr langer und mittlerer Reichweite – tun sich jetzt schon Lücken auf, weil wir da einfach nicht viel haben. Und selbst wenn man das alles der Ukraine liefern würde, dann hätte die Ukraine Munition bis vielleicht den Frühsommer hinein – das war es dann.

Wenn das System durch ein westliches System ersetzt werden soll, müsste dafür die Infrastruktur zur Lieferung und Wartung geschaffen werden. Und auch die Ausbildung am Gerät nähme mehrere Monate in Anspruch. Wenn wir also sehen, wie schnell bestimmte Rüstungsgüter verbraucht werden, müsste man jetzt anfangen, die Vorarbeit dafür zu leisten.

06.04.2022

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„Aussparungen, die sich für Russland gerächt haben“

tagesschau.de: Auf russischer Seite ist die Frühjahrs-Einberufung in die Armee nun knapp eine Woche her. Welchen Faktor stellen die neuen Rekruten im weiteren Kriegsverlauf dar?

Gressel: Sie sind zum einen ein quantitativer Faktor. Die Ukrainer schätzen, dass die russische Seite etwa 60.000 Mann rekrutiert hat und nachführen will, um die bisherigen Verluste auszugleichen. Inzwischen können wir davon ausgehen, dass Russland in diesem Krieg 13.000 bis 14.000 Mann verloren hat, dazu kommen noch einmal 20.000 Verwundete – das heißt, wir müssen von mindestens 30.000 Mann ausgehen, die für einen weiteren Einsatz nicht zu gebrauchen sind.

Zum anderen gab es bei der Truppenverlegung an die ukrainische Grenze zu Jahresanfang Aussparungen, die sich für Russland bitter gerächt haben, ein solcher Punkt wären etwa Feldwerkstätten. Viele Fahrzeuge sind seit Oktober im Manöver im Einsatz, nun seit eineinhalb Monaten im Krieg im rauen Einsatz und müssen gewartet werden, weil sie sonst reihenweise kaputt gehen. Und in diesen Feldwerkstätten dienen Wehrpflichtige – vor allem für alle möglichen Hilfsarbeiten.

Bei der Aufstellung von Verbänden aus russischen Vertrags- und Berufssoldaten hat Russland sehr viel Wert auf die Kampf- und Kampfunterstützungstruppen, aber nicht auf Logistik gelegt. Zum 1. April wären die Rekruten des Vorjahres nun verfügbar, wenn sie sich per Vertrag zum Einsatz melden – und ich schätze, da herrscht entsprechender Druck auf ganze Werkstätten und Transportkompanien, die nötige Zahl an „Freiwilligen“ zu bekommen. Russland hätte damit Soldaten, die fertig ausgebildet sind, einander kennen und nicht erst zur Einheit formiert werden müssen und an die Front geschickt werden können.

Was eine erneute russische Offensive erschweren könnte

tagesschau.de: Wie wird sich die Ukraine also voraussichtlich aufstellen?

Gressel: Die Ukrainer werden versuchen, ihre Gunst der Stunde zu nutzen. Um Kiew sind jetzt hauptsächlich Nationalgarde und Reservisten, die sich zur Verteidigung einrichten. Die großen, mechanisierten Verbände werden in den Osten und Süden des Landes verlegt.

Man sieht das zum Beispiel vor Cherson: Hier versuchen die Ukrainer, die Russen von der Westseite des Dnjepr zu verdrängen, bevor dort Verstärkung ankommen kann. Solange man die zusätzlichen 60.000 Mann, die Russland mutmaßlich entsenden will, noch nicht im Land spürt, hat die Ukraine natürlich ein Zeitfenster für Gegenangriffe, um die russischen Truppen von wichtigen Brückenköpfen zu vertreiben – so könnte sie eine erneute russische Offensive schwieriger machen.

Sjewjerodonezk und Isjum in der Ostukraine greift die russische Armee schon an. Wir werden sehen, wie schnell die ukrainischen Kräfte, die aus dem Raum Kiew abgezogen werden, dort angelangen und die Verteidigung verstärken können, bevor die erneute Offensive losgeht. Der Aufruf zur Flucht an Zivilisten aus den Oblasten Charkiw, Luhansk und Donezk zeigt ja, dass sie nach ukrainischer Einschätzung unmittelbar bevorsteht.

Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert. Bild: ISW/06.04.2022

Die militärischen Vorteile der Ostukraine – für Russland

tagesschau.de: Was kann Russland in Donezk und Luhansk erreichen?

Gressel: Russland kann dort seinen Angriffskrieg leichter führen. Es hat eine bessere Eisenbahnanbindung, in Donezk und Luhansk waren russische Kräfte schon lange aktiv und konnten sich vorbereiten – die Infrastruktur ist also da. Auch das Gelände ist für die Russen vorteilhafter als die Waldgebiete um Kiew, was die Kontrollierbarkeit der Nachschublinien angeht.

Wenn man einen reinen Abnutzungskrieg führen will, um die ukrainischen Kräfte soweit wie möglich zu erodieren, ist es aus russischer Sicht klüger, dort das Gefecht zu führen als im Westen. Vor allem aber ist es vorteilhafter, sich an einem Ort zu konzentrieren, an dem es auch Entscheidungen herbeiführen kann, statt auf breiter Front mit zu wenigen Kräften im Land zu stehen.

„Russen versuchen Cherson zu halten“

tagesschau.de: Eine militärische Rückeroberung der Gebiete um Donezk und Luhansk, die Russland als selbsternannte „Volksrepubliken“ anerkannt hat, ist für die Ukraine nicht realistisch – das sagt selbst ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj. Wie steht es um Cherson, wo ebenfalls ein angebliches „Referendum“ über eine Abspaltung als selbsternannte Volksrepublik vorbereitet werden soll?

Gressel: Cherson versuchen die Russen zu halten, weil es militärisch ein wichtiger Punkt ist: Es ist auf mehrere Hundert Kilometer der einzige größere Übergang über den Dnjepr, ein wichtiger Eisenbahn-Knotenpunkt. Wenn Russland weiter nach Odessa vorstoßen wollte, müssten die Truppen sonst um Bug herum und entweder bei Mykolajiw oder weiter nördlich über den Fluss hinüber. Wird Russland hinter den Dnjepr zurückgeworfen, wird eine weitere Offensive noch schwieriger, weil dann mit Bug und Dnjepr zwei große Flüsse zwischen den eigenen Verbänden und Odessa liegen.

Überstehen die russischen Truppen hingegen diese Offensive, könnten sie entweder nach Norden oder nach Süden noch einmal zum Gegenschlag ausholen. Das ist militärisch zur Zeit wichtiger als das politische Ziel, ob nun die Oblast Cherson zur Volksrepublik erklärt wird oder nicht.

Krieg gegen die Ukraine Russische Angriffe im Süden und Osten

Laut Präsident Selenskyj ist die Region Kiew wieder vollständig unter Kontrolle der Ukraine.

„Russland denkt in längeren Zeiträumen“

tagesschau.de: Militärisch war der bisherige Kriegsverlauf für Russland ein Fiasko, der weitere Verlauf ist ungewiss. Worin liegt für Russland der Zweck, weiterhin enorme Kräfte auf den Angriff zu werfen?

Gressel: Ich glaube, es geht jetzt mehr um zerstören als erobern. Die propagandistischen Aufrufe zur Vernichtung der Ukraine, die durch die russischen Staatsmedien gehen, spiegeln das wider. Die Hoffnung, sich zumindest viel Territorium zu sichern, die Ukraine zu entvölkern und als Staat zu zerschlagen, bis so gut wie nichts mehr übrigbleibt, ist ja ein langfristiges Ziel.

Im Kreml glaubt man, dass Russland diesen Raum beherrschen muss, wenn es in diesem Jahrhundert europäische Großmacht bleiben will. Russland denkt hier in längeren Zeiträumen, in denen es gemeinsam mit China die westliche Vorherrschaft brechen will. Vor diesem Horizont machen ein weiterer Monat oder ein weiteres Jahr Krieg kaum einen Unterschied, auch wenn er schmerzhaft ist.

Und ein für Russland unvorteilhafter Friede wäre der eigenen Bevölkerung, die man so aufgewiegelt hat, derzeit noch schwieriger zu erklären als ein Krieg, der nicht ganz nach Plan läuft. Letzteres kann man den USA in die Schuhe schieben und zu einem Stellvertreterkrieg stilisieren: In der Ukraine kämpft man nach diesem Narrativ dann gegen böse amerikanische Agenten, die die Ukraine unterjocht haben und auch Russland vernichten wollen – da geht es also um alles oder nichts.

tagesschau.de: Bei einem Frieden wäre das schwieriger?

Gressel: Die Kohäsion, die durch den Kriegszustand erzeugt wird, ist dann weg – und die Frage, wofür er gut und ob er es wert war, wird eher nach einem Krieg gestellt als währenddessen.

Waffenstillstände wären also aus jetziger Sicht für Russland tragbar, wenn diese die Zeit überbrücken würden, um eine neue Offensive zu starten. Aber ein richtiger Frieden wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt für Putin innenpolitisch noch katastrophaler als die Fortsetzung eines Krieges, der noch nicht entschieden ist.