Aktion “Ungeziefer”: Vertrieben aus dem DDR-Grenzgebiet
26. Juni 2022Vor 70 Jahren verloren über 2.000 Menschen in Mecklenburg ihr Zuhause. Im Zuge der Schaffung einer Sperrzone an der innerdeutschen Grenze wurden sie von der Stasi als “politisch unzuverlässig” eingeschätzt, abgeholt und umgesiedelt – unter dem Tarnnamen Aktion “Ungeziefer”.
Marie-Luise Busse kann diesen Tag vor 70 Jahren nicht vergessen. Sie lebt damals mit Ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern in Vockfey, einem Dorf direkt hinter dem Deich an der Elbe. Marie-Luises Mutter bewirtschaftet den Hof mit Pferden, Schweinen, Kühen, Hühnern und 50 Hektar Land zu dieser Zeit alleine. Der Vater ist nicht aus dem Krieg zurückgekehrt und gilt als verschollen.
Plötzlich liegt die Heimat im “Niemandsland”
Marie-Luise Busse verbringt die ersten zwölf Jahre ihres Lebens am Elbdeich, geht zur Schule, hat gute Freunde, fühlt sich geborgen, auch als 1952 plötzlich Stacheldrahtzäune vor dem Küchenfenster ihres Elternhauses gespannt werden. Der DDR-Ministerrat hat am 26. Mai die “Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie” zwischen der DDR und “den westlichen Besatzungszonen Deutschlands” beschlossen. Die Grenze zum Westen soll “gefestigt” werden. Dafür entstehen eine fünf Kilometer breite Sperrzone, ein 550-Meter-Schutzstreifen und ein zehn Meter breiter Kontrollstreifen entlang der Grenze. Plötzlich lebt die Familie von Marie Luise Busse in diesem “Niemandsland” der DDR. Besuche sind nur mit Passierschein möglich. Nachts herrscht eine Ausgangssperre.
Familie Busse muss Vockfey binnen 48 Stunden verlassen
Auf dem Nachhauseweg von der Schule wird Marie-Luise kurz darauf von der Tochter des Bürgermeisters gefragt: “Hast du gehört, dass so viele aus dem Dorf raus müssen?“. Marie-Luise rennt so schnell sie kann nach Hause. Ihre Schwester, so erinnert sie sich, steht auf dem Hof und weint bitterlich, während die Mutter mit dem Fahrrad durch das Dorf fährt, um von Bekannten zu erfahren, wer alles weg müsse. Schnell wird klar: Innerhalb von 48 Stunden muss die Familie den Hof verlassen. 53 Landwirte aus Vockfey werden an einem Tag umgesiedelt. Weg von der Grenze. Mitgenommen werden darf nur, was in einen halben Güterzug-Waggon passt.
“Ungeziefer” – Ein Schriftzug brennt sich ins Hirn ein
Schnell noch verabschieden von den Freunden, heißt es für die Betroffenen. Am Bahnhof in Brahlsdorf werden die Güterwagen verladen. Die Menschen drängen sich in den alten Bahnwagen. Die Beamten der Volkspolizei sagten es sei zu “ihrer eigenen Sicherheit”, erinnert sich Marie-Luise Busse. Niemand erfährt, wohin es geht. Vielleicht nach Sibirien?, so die Befürchtung. Der Zug hält immer wieder an, fährt bis in die Nacht hinein. An das Wort “Ungeziefer”, das in dem Kästchen an dem Güterzug stand, kann sich Marie-Luise noch genau erinnern. Der Schriftzug brennt sich auch ihren Kopf ein. Für sie unvorstellbar, dass sie damit gemeint sein soll.
Ankunft in Malchin nach der Zwangsumsiedlung
Der Zug mit der Familie von Marie-Luise hält in Malchin. Lastwagen bringen die Ausgesiedelten in die Dörfer in der Umgebung. Der Familie wird auf einem Bauernhof ein Zimmer zugewiesen. 16 Quadratmeter groß, darin ein Tisch und Stühle. Kein Platz für ein Bett. Sie schlafen auf dem Boden. Die Menschen im Ort dachten: Die Zwangsumgesiedelten werden wohl was Schlimmes gemacht haben, wenn sie ausgewiesen wurden, deshalb wurden sie “nicht gerade nett” empfangen, erzählt Marie-Luise Busse 70 Jahre später. Für die Miete musste vor allem die Schwester jeden Tag Rüben hacken und melken.
Führten Denunziationen zur Vertreibung?
53 Landwirte wurden aus Vockfey zwangsumgesiedelt. So viele Menschen wie kaum an einem anderen Ort an der Grenze. Marie-Luise Busse kann sich bis heute nicht erklären, warum es gerade so viele aus ihrem Heimatort waren. Wer galt als “politisch nicht zuverlässig”? Auch Denunziationen spielten eine Rolle. Marie-Luise vermutet, dass ihre alleinstehende Mutter, die einen neuen Partner gefunden hatte, von irgendjemand angeschwärzt wurde. Belege hat sie dafür nicht finden können.
Der Ort der Kindheit ist für immer verschwunden
Dort, wo ihr Haus stand, direkt am Deich, wurden nach und nach die verlassenen Häuser abgerissen oder gesprengt. 1973 wurden die Trümmer in ein 16 Meter tiefes Wasserloch versenkt – und weit nach dem Ende der DDR gefunden. Der Ort von Marie-Luises Kindheit ist verschwunden. Aus den geborgenen Steinen der abgerissenen Häuser gibt es nun im Ort ein Mahnmal, eine “Denkpyramide”. Marie-Luise hat trotz der schwierigen Zeit Veterinärtechnikerin gelernt, bekam mit ihrem Mann drei Kinder und wohnt nun in Neubrandenburg. Und auch ihre Schwester ging ihre Wege. Ihre Mutter übernahm später eine eigene Siedlung bei Dargun. Doch den Verlust des Hofes in Vockfey verkraftete sie nie.
Nach der Wende bekam Familie Busse ihr Land wieder
Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung demonstrierten die Zwangsausgewiesenen. Auch Marie-Luise Busse war mit ihrer Mutter bei einigen dieser Demos dabei. Fünf Jahre kämpften sie, dann wurde ihnen das Land zurück übertragen. Von da an fuhren sie jedes Jahr regelmäßig zurück in die Heimat. Marie-Luise Busse und ihr Mann stellten ihren Wohnwagen auf die Wiese, wo einst der Hof stand und auch die Mutter kam öfter mit, bis sie 2004 verstarb. Nun hat Marie Luise Busse das Grundstück an ihre Kinder weitergegeben. Die können dann entscheiden, was damit passiert.