Streit in der Ampel Was eine AKW-Verlängerung bedeuten würde

Streit in der Ampel Was eine AKW-Verlängerung bedeuten würde

18. Juli 2022 Aus Von ...Linda Gerke
Stand: 18.07.2022 15:21 Uhr

Deutschland droht ein Energie-Engpass. Sollen deshalb die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert werden? Die Ampelkoalition debattiert heftig darüber – auch, vom bisherigen strikten Nein unter Bedingungen abzurücken.

Von Kirsten Girschick und Cosima Gill, ARD-Hauptstadtstudio

Wie steht die Ampel zu einer Laufzeitverlängerung der AKW?

Bereits im März hatten das Wirtschafts- und Umweltministerium – beide unter grüner Führung – eine Laufzeitverlängerung geprüft. Ergebnis: „Eine Verlängerung der Laufzeiten könnte nur einen sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems leisten, und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten und mit Abstrichen an den notwendigen Sicherheitsüberprüfungen – und das bei einer Hochrisikotechnologie.“

Doch die Ampel ist sich uneins. Koalitionspartnerin FDP forderte zuletzt immer deutlicher eine längere Laufzeit, die SPD hält bislang dagegen und spricht von einer „Scheindebatte“. Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang deutete bei „Anne Will“ an, dass eine vorübergehende Laufzeitverlängerung nicht ausgeschlossen sei. Man müsse natürlich immer auf die aktuelle Situation reagieren und „dabei alle Maßnahmen prüfen“.

Auch das Bundeswirtschaftsministerium deutete am Montag ein mögliches Umdenken an. Eine Sprecherin verwies auf eine neu angeordnete Prüfung der Sicherheit der Stromversorgung unter bestimmten Szenarien. „Auf der Basis dieser Ergebnisse wird dann entschieden, was zu tun ist“, sagte die Sprecherin laut Nachrichtenagentur Reuters auf die Frage nach einer möglichen Laufzeitverlängerung.

Die Union wiederum hatte erst kürzlich einen Antrag zur Laufzeitverlängerung in den Bundestag eingebracht, der abgelehnt wurde.

Die politische Debatte entwickelt sich rund um den drohenden dauerhaften Gasstopp aus Russland also ständig weiter.

Welche Rolle spielt die Atomenergie in Deutschland?  

Bis zum Ende des Jahres 2022 sollen die letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland heruntergefahren werden. Drei Reaktoren werden noch betrieben: Isar 2 in Bayern, das AKW Emsland in Niedersachsen und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Rund sechs Prozent des Stroms in Deutschland wurde im ersten Quartal 2022 noch durch Kernenergie erzeugt.

Befürworter einer verlängerten Laufzeit betonen, dies würde zu weniger Verstromung von Gas führen. Gegner dagegen verweisen darauf, dass Atomkraftwerke nur Strom liefern, aber keine Wärme, und deshalb ausbleibende Gaslieferungen nicht ersetzen könnten.

Wer hat Recht?

Ein Stück weit beide Seiten, je nach Betrachtungsweise. Derzeit werden 13 Prozent des deutschen Stroms mit Gaskraftwerken erzeugt und sechs Prozent mit Atomkraft. Wenn der Atomstrom zum Jahresende wegfällt, muss mit anderen Energieträgern mehr erzeugt werden – also mit Kohle, Gas oder erneuerbaren Energien. Würde man die Atomkraftwerke länger laufen lassen, müsste dieser Stromanteil nicht ersetzt werden. Deutschland müsste also, solange die Erneuerbaren Energien nicht alles abdecken können, zumindest für diese sechs Prozent nicht auf klimaschädliche Kohleerzeugung ausweichen und auch kein Gas dafür einsetzen. Das könnte zum Heizen genutzt werden.

So schätzt Kerntechniker Thomas Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Technologie: „Die drei Kernkraftwerke haben letztes Jahr 33 Terrawattstunden Strom erzeugt. Wenn man das in Gas umrechnen würde, kann man damit rund drei Millionen Einfamilienhäuser heizen.“

Was nicht gelingen kann: mehr Gas als bisher durch Atomkraft zu ersetzen. Denn die drei Atomkraftwerke könnten selbst bei einem unveränderten Weiterbetrieb nur maximal genauso viel, aber nicht mehr Strom liefern als bisher. Außerdem ist umstritten, wie viel Strom die Atomkraftwerke bei einem Weiterbetrieb tatsächlich noch liefern würden. Denn dies hängt davon ab, wie viel Energie die noch vorhandenen Brennstäbe erzeugen können und wann neue Brennstäbe beschafft werden könnten.

Der Prüfvermerk von Umwelt- und Wirtschaftsministerium kam im März zum Ergebnis, dass die drei AKW mit den vorhandenen Brennstäben nach dem 31.12. nur dann weiterlaufen könnten, wenn die Stromerzeugung vorher gedrosselt würde:

Die Atomkraftwerke würden dann im Sommer 2022 weniger Strom produzieren, um über den 31.12.2022 hinaus im ersten Quartal 2023 noch Strom produzieren zu können. Insgesamt würde zwischen heute und Ende März 2023 netto nicht mehr Strom produziert.
AKW-Laufzeit-Debatte Ein Spaltpilz für die Ampel

Die Union will noch diese Woche einen Antrag zur AKW-Laufzeitverlängerung in den Bundestag einbringen.

Wäre eine Laufzeitverlängerung technisch umsetzbar?  

Aus einer rein technischen Perspektive wäre es denkbar, sagt Kernphysiker Clemens Walther vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Leibniz Universität Hannover: „Die Brennstoffelemente, die für einen Weiterbetrieb nötig wären, wären bis Sommer 2023 verfügbar. Bis dahin wäre ein Streckbetrieb möglich, und die Kraftwerke könnten mit rund 80 Prozent der Leistung weiter betrieben werden.“

Streckbetrieb heißt, die Atomkraftwerke werden mit geringerer Leistung so betrieben, dass die Brennstäbe länger Energie liefern.

Auch Nuklearexperte Tromm hält eine Verlängerung über mehrere Monate für möglich. Bis dahin würden die Brennelemente ausreichen, wenn die Leistung reduziert würde. Der Betreiber des AKW Emsland, RWE, schätzt den Zeitraum für die Beschaffung auf zwölf bis 24 Monate ein und weist darauf hin, dass neue Brennelemente für jede Anlage individuell hergestellt werden müssen.

Woher kommt das Uran für die Brennstäbeherstellung?  

Die größten Exportländer für Uran nach Deutschland waren im Jahr 2020 Kanada mit 62 Prozent und die Niederlande mit 38 Prozent, so die Angaben des europäischen Statistikamts Eurostat. Direkte Uran-Anlieferungen aus Russland nach Deutschland sind der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe aktuell nicht bekannt.

Jedoch kommen rund 20 Prozent des Uran, welches in der EU genutzt wird, aus Russland. Die Euratom-Versorgungsagentur (ESA) hat diese Zahl 2020 veröffentlicht. Über 19 Prozent des Uran in der EU kommen auch von Russlands Verbündetem Kasachstan. Also insgesamt fast 40 Prozent.

Umweltorganisationen wie der BUND kritisieren im „Uranatlas“, dass über den Umweg über andere europäische Länder auch in Deutschland Uran aus Russland und Kasachstan weiterverarbeitet wurde und somit eine Abhängigkeit von Russland bestehe.

Wie steht es um die Sicherheitsprüfungen bei einer Laufzeitverlängerung?

Alle zehn Jahre müssen die Betreiber eines Kraftwerks eine sogenannte periodische Sicherheitsüberprüfung vornehmen. Das Ziel: das Sicherheitskonzept der Anlage ganzheitlich zu bewerten. Im Hinblick auf das Abschaltdatum 2022 wurden diese 2019 nicht mehr durchgeführt.

Für Kerntechniker Tromm bedeutet dies jedoch nicht, dass die Kernkraftwerke anschließend unsicher seien: „Zwischen den Sicherheitsüberprüfungen erfolgen immer wieder Revisionen einhergehend mit dem Wechsel einiger Brennelemente. Somit stellt für mich der Weiterbetrieb der Anlagen für mehrere Monate kein Sicherheitsrisiko dar.“ Die letzte Revision habe es beim Kernkraftwerk Isar 2 beispielsweise im Oktober 2021 gegeben.

Der TÜV Süd hat genauer geprüft, ob das Kernkraftwerk Isar 2 aus technischer Sicht am Netz bleiben könnte und hatte dazu keine weiteren Bedenken. In der Bundesregierung gibt es allerdings Zweifel, ob die notwendigen Sicherheitsüberprüfungen so durchgeführt werden könnten, wie im Bericht vorgeschlagen.

Wäre genug Personal in den Kernkraftwerken, um einen längeren Betrieb zu ermöglichen? 

In einer Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios weist der Betreiber RWE darauf hin, dass die Personalplanung auf die Stilllegung zum Ende des Jahres ausgerichtet wurde. Nuklearfachmann Tromm sieht das weniger kritisch: Das Personal wäre auch für den Rückbau vorgesehen gewesen und könnte die jeweiligen Anlagen vermutlich weiter betreiben.

Wie stehen die Betreiber der Kraftwerke zu einer Laufzeitverlängerung?

Die Betreiber der Kraftwerke sehen eine Laufzeitverlängerung skeptisch. EnBW (AKW Neckarwestheim) verweist auf Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios auf den Ausstieg, der „konsequent umgesetzt“ werde. Auch RWE (AKW Emsland) schätzt die „Hürden für einen sinnvollen verlängerten Betrieb als hoch ein“. PreussenElektra, eine Tochterfirma von E.ON und Betreiber des AKW Isar 2, schreibt jedoch, dass „ein Weiterbetrieb von Isar 2 unter bestimmten Voraussetzungen möglich wäre“, wenn das Kernkraftwerk gebraucht würde.

Die Betreiber beziehen sich in ihren Antworten auf die Entscheidung der Bundesregierung, die sich bereits gegen eine Verlängerung der Laufzeit entschieden habe.

Ist eine Verlängerung rechtlich möglich, und wer würde die Verantwortung übernehmen? 

Der Branchenverband KernD, der aber nur für einen Teil der verbleibenden AKW-Betreiber spricht, ist der Auffassung, dass es gar keinen neuen, umfangreichen Zulassungsprozess bräuchte: „Eine Neuerteilung von Genehmigungen wäre nicht erforderlich“, schreibt der Jurist Christian Raetzke in einer Analyse, auf die KernD verweist. Die Anlagen würden „ja noch über ungeschmälerte Betriebsgenehmigungen verfügen“. Umwelt- und Wirtschaftsministerium gehen dagegen davon aus, dass ein neues Genehmigungsverfahren nötig wäre, einschließlich Umweltverträglichkeitsprüfung und vieler anderer Schritte.

Widersprüchliche Angaben gibt es darüber, ob die Kraftwerke ohne die Periodische Sicherheitsüberprüfung überhaupt weiterlaufen dürften. Man könnte das nachholen, in einer „auf die begrenzte Zusatzlaufzeit zugeschnittenen“ Variante, argumentiert Jurist Raetzke. Eine Sprecherin des Umweltministeriums dagegen verweist darauf, dass die Meiler „ohne eine abgeschlossene Periodische Sicherheitsüberprüfung nicht in den Weiterbetrieb gehen dürfen“.

Bedeckt halten sich beide Seiten, wenn es um die Frage der Haftung geht: Falls der Staat die Betreiber kurzfristig zu einer Laufzeitverlängerung auffordert – müsste er dann auch einspringen, wenn etwas passiert? Es sei ohne die Prüfungen „absehbar, dass Abstriche an der Sicherheit gemacht werden“ müssten, erklärt das Umweltministerium dazu – und dass „die Betreiber dann eben das Risiko auch übertragen würden auf den Staat“.

Welche Kosten würden durch eine Verlängerung entstehen?  

Das ist aktuell schwer zu beurteilen. Es käme unter anderem darauf an, wie lange die Meiler weiterlaufen sollen – drei Monate, sechs oder noch länger? Neue Brennstäbe, die Reaktivierung von Personal, Sicherheitsüberprüfungen, Betriebskosten, Versicherungen: Für all das müsste vermutlich der Staat aufkommen, sollte eine Laufzeitverlängerung politisch beschlossen werden. Und auch weiterhin ungelöst ist die Endlagerung des Atommülls.