Nach dem Tod al-Sawahiris Wohin steuert Al Kaida?
6. August 2022Bin Ladens Nachfolger galt als uncharismatisch – und stand dennoch jahrelang an der Spitze von Al Kaida. Der Tod al-Sawahiris bedeutet nicht das Ende der Terrororganisation. Aber sie hat längst starke Konkurrenz.
„Ich rufe meine Brüder, die Muslime und die Gotteskrieger im Allgemeinen und insbesondere in Afghanistan dazu auf, sich hinter uns aufzureihen und uns zu unterstützen.“
Mit langen Botschaften wie dieser wandte sich der bisherige Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri in den vergangenen Jahren an seine Anhänger. Jetzt ist der Nachfolger Osama bin Ladens tot – der „Terror-Doktor“, wie er oft genannt wurde. Den Spitznamen hatte al-Sawahiri aufgrund seines Berufs: Er war gelernter Arzt aus Ägypten.
Es hätte die Karriere eines Menschen werden können, der die Kunst besaß, Leben zu retten und zu heilen. Wäre da nicht die Ideologie gewesen: Der Lebensweg des als extrem gläubig geltenden al-Sawahiri ist eng mit der Geschichte Al Kaidas verbunden. Als gewaltbereiter Extremist reiste er in den Achtzigerjahren nach Saudi-Arabien, Pakistan und Afghanistan – und lernte dort Bin Laden kennen.
Islamforscher Greg Barton zeichnet seinen Weg nach: „Al-Sawahiri war Teil der Gründungsgeneration von Al Kaida, vor 35 Jahren formten er und Bin Laden Al Kaida. Das war 1988.“ Als Bin Laden dann 2011 starb, „wurde al-Sawahiri Nummer eins.“ Barton sagt:
Das Ganze ist wie eine globale Kooperation, ein Netzwerk, wie eine Firma.
Bin Laden und al-Sawahiri blieben ihr Leben lang zusammen, planten die Terroranschläge vom 11. September. Al-Sawahiri – bei weitem nicht so charismatisch wie Bin Laden – blieb lange die Nummer zwei, bis Al-Kaida-Führer Bin Laden 2011 von einer US-Spezialeinheit in Pakistan getötet wurde. Seitdem führte der „Terror-Doktor“ Al Kaida an: auch, wenn es ihm nicht gelang, das ikonenhafte Ansehen seines Vorgängers zu erreichen.
Und jetzt? Chef und Stellvertreter tot, die alte Garde Al Kaidas ausgelöscht – und die Terrororganisation damit auch? Keineswegs, sagt Hassan Abu Haniya, Terrorismusforscher aus Jordanien. „Der Tod von al-Sawahiri wird keinen größeren Einfluss auf die Terrororganisation haben. Sein Tod ist mehr ein symbolischer Akt, kein strategischer Erfolg in der Terrorbekämpfung.“
„Sicherer Hafen“ in Afghanistan
Al Kaida habe sich verändert, so Haniya, sei nicht mehr die zentralgesteuerte Terrororganisation mit klarer Hierarchie wie vor dem 11. September. „Jetzt ist es ein Splitternetzwerk mit verschiedenen autonomen Ablegern, so wie im Maghreb, in Mali und südlich der Sahara.“
Diese Veränderung beschreiben Terrorismusbeobachter übereinstimmend. Al Kaida fungiere wie ein globales Netzwerk mit eigenen Untergruppen, fast wie Filialen, die vor Ort für ihre Interessen kämpfen. Vor allem in Afrika sind starke Gruppen aktiv: „Franchise-Unternehmen“ nennt sie Matthew Levitt vom auf Nahostpolitik spezialisierten Washington Institute. Kommt der nächste Al-Kaida-Chef aus Afrika? Levitt ist da skeptisch.
„Da die Gruppen in Afrika derzeit sehr stark sind – ob in Somalia oder in Mali -, gab es von der UN einige Spekulationen, ob der nächste Führer von dort stammt. Ich bezweifle das, weil es eine riesige Veränderung der Ausrichtung wäre. Und der Fakt, dass al-Sawahiri in Kabul in einem Gästehaus des Innenministers gewohnt hat, zeigt, dass Al Kaida bei den Taliban in Afghanistan einen sicheren Hafen gefunden hat.“
Feste Organisationsstruktur
Ein sicherer Hafen – aber längst nicht der einzige Ort, an dem Al Kaida stark ist. Und genau das mache es schwer, die Terrororganisation zu bekämpfen, sagt Ahmed Sayed Ahmed, Forscher für internationale Beziehungen am Al-Ahram-Zentrum in Kairo. „Das ist in der Tat schwierig, weil Al Kaida das Konzept der Schläferzellen hat. Ob in den Bergen, Höhlen oder unter der Zivilbevölkerung in Städten.“
Die Anschläge würden mit moderner Technik geplant, so Ahmed, soziale Netzwerke zur Rekrutierung genutzt. „Die Organisation finanziert sich durch Geldwäsche, Drogenanbau und Schmuggel. Eine dezentrale Organisation mit vielen Zweigstellen, die unabhängig voneinander operieren, ohne Befehle zu erhalten. Das ist das Arbeitssystem von Al Kaida und macht es schwer, den Terror auszurotten.“
IS als Konkurrenz
Aber wie mächtig ist Al Kaida überhaupt noch? Die Extremisten seien im Nahen Osten in den vergangenen Jahren sehr geschwächt worden, auch durch den uncharismatischen Führungsstil al-Sawahiris und die Konkurrenz zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS), sagt Terrorismusexperte Levitt.
„Al-Sawahiri hat die junge Generation nicht angesprochen, er stand weder für TikTok-Videos noch für eine snappy Bildsprache“, so Levitt. Er habe nie widerstehen können, stundenlange Vorträge zu halten oder hunderte Seiten lange Monologe, die sich niemand anhören wollte.
Al-Sawahiri war nicht nur ein alter Mann, er war ein grummeliger alter Mann.
Vor allem das Erstarken des sogenannten IS machte Al Kaida Konkurrenz und stellte die bisherige Nummer eins des Dschihadismus in den Schatten. „Der IS ist sozusagen das bestialische Kind Al Kaidas“, so Levitt.
„Die IS-Anhänger waren ungeduldiger, haben sofort ein Kalifat ausgerufen. Jeder konnte beim IS mitmachen, während Al Kaida nur die Besten in ihre Kreise aufnahm. Der Tod al-Sawahiris birgt für Al Kaida eine Chance. Eine Gelegenheit, Al Kaida ins Jahr 2022 zu bugsieren.
In einem sind sich die Terrorismusforscher einig: Al Kaida befinde sich in einem Umbruchprozess: geschwächt, aber noch lange nicht für tot erklärt. Denn selbst wenn man in der Lage sei, die Extremisten militärisch zu bekämpfen, so Beobachter – ideologisch sind Al Kaida wie auch der IS noch lange nicht besiegt.
Levitt überlegt: „Vielleicht werden wir irgendwann sagen: Das war der Beginn vom Ende von Al Kaida. Vielleicht aber auch nur der Moment einer Verjüngung. Das Gleiche mit dem IS. Ja, er ist in Teilen militärisch besiegt.“ Aber so lange es nicht geschafft werde, für Syrien eine Lösung zu finden, könne sich der IS dort im Osten auch erholen und wiederkommen. „Es gibt keinen Sieg im Kampf gegen den Terror – dieser Krieg geht für immer weiter.“