„Die Schwarzmeerflotte ist jetzt gefährdet “Nach den Krim-Explosionen steckt Russland in der Zwickmühle
11. August 2022Die von Russland annektierte Halbinsel Krim wird binnen weniger Tage von einer Drohnenattacke gegen die Schwarzmeerflotte und von Explosionen auf einer Militärbasis erschüttert. Versucht die Ukraine, sich ihr Gebiet mit militärischer Gewalt zurückzuholen?
„Wir haben uns ausgeruht. Es war nichts los. Es war ruhig und friedlich. Und dann gab es einen heftigen Schlag“, sagt Viktor Lesnichenko in einem Video des Nachrichtenmagazins „Spiegel“ . Im Hintergrund sind Rauchwolken zu sehen.
Lesnichenko lebt auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim. Die Explosionen, zu denen es dort am Dienstag kam, hat er hautnah miterlebt. „Das Haus erbebte. Die Fenster zersprangen. Sie bedeckten meine Frau. Der Rahmen des Fensters zerbrach. Um ehrlich zu sein, verstand ich nicht, was da geschah“, sagt er.
Wie Lesnichenko geht es wahrscheinlich vielen Menschen. Wer ist verantwortlich für das, was gerade auf der Krim geschieht? Wie viele Menschen sind tot, wie viele verletzt? Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Explosionen auf der ukrainischen Halbinsel.
Was genau ist auf der Krim passiert?
Am Dienstag gab es mehrere Explosionen auf einem russischen Militärstützpunkt im Südwesten der Krim nahe dem Kurort Nowofjodorowka. Dabei wurde ein Mensch getötet, wie Krim-Verwaltungschef Sergej Aksjonow sagte. Außerdem gab es 14 Verletzte.
Wie ukrainische Medien berichten, sind die Landebahn des Militärflughafens und ein Munitionslager betroffen. Von der Basis Saki nördlich von Sewastopol flogen zuletzt russische Kampfjets vom Typ Suchoi Su-24 und Mehrzweckkampfflugzeuge vom Typ Suchoi Su-30 viele Angriffe auf Ziele im Süden der Ukraine.
Auch andere russische Regionen im Grenzgebiet zur Ukraine berichten von einer extrem gespannten Lage im Zuge angeblicher Angriffe aus dem Nachbarland. Die Gouverneure von Brjansk, Kursk und Belgorod klagen über Verletzte und schwere Zerstörungen.
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Wer ist verantwortlich?
Es lässt sich nicht unabhängig überprüfen, wer genau die Attacken verübt hat. Als Selenskyjs Berater Michail Podoljak auf einer Pressekonferenz gefragt wurde, ob Kiew offiziell die Verantwortung für die Explosionen übernimmt, sagte er: „Natürlich nicht. Was haben wir damit zu tun?“ Und weiter: „Es war eine Munitionsexplosion.“
Auch Moskau bestreitet, dass die Ukraine hinter den Explosionen steckt. Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, ein Verstoß gegen die Brandschutzregeln sei die Ursache der jüngsten Explosionen.
Die „New York Times“ hingegen berichtete von einem ukrainischen Angriff. Dabei sei eine von der Ukraine entwickelte Waffe eingesetzt worden. Auch der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch sprach inoffiziell von einem Angriff mit einer neuen ukrainischen Waffe „während die Partner uns noch keine weitreichenden Raketen schicken“.
Die ukrainische Rüstungsindustrie mache Fortschritte. Das Augenmerk von Militärexperten richtet sich vor allem auf neue ballistische Kurzstreckenraketen Hrim-2. Sie wurden in der Ukraine entwickelt und haben angeblich eine Reichweite bis zu 500 Kilometern.
Was sagen Experten?
Militärexperten des US-amerikanischen Institute for the Study of the War gehen davon aus, dass die russische Führung einen ukrainischen Angriff aus Imagegründen nicht eingestehen will. Dann würde Moskau einräumen müssen, dass seine Luftabwehr versagt habe, hieß es.
Auch der australische Militärstratege Mick Ryan, der immer wieder seine Einschätzungen zum Krieg in der Ukraine abgibt, hat sich zu den Explosionen auf der Krim geäußert. Er glaubt, dass es sich bei den Detonationen um eine ukrainische Aktion handelt.
Auf Twitter fasste er – aus seiner Perspektive – „die Auswirkungen dieser erfolgreichen Operation“ zusammen. Die Explosionen hätten die Russen zwar einige Flugzeuge gekostet. „Aber die Realität ist, dass sie viel mehr haben.“ Schwerwiegender als der Verlust der Flugzeuge sei aber der Wegfall von Munition- und Treibstoffvorräten, so Ryan. „Erinnern Sie sich, wie Japan versäumt hat, die Treibstofftanks in Pearl Harbor wegzubringen?“
Außerdem könnten die Explosionen das Vertrauen der Russen in ihre eigenen Abwehrsysteme beschädigen. „Die Basis wurde angeblich durch S400-Systeme geschützt“, schreibt Ryan.
Er sieht Russland in einer Zwickmühle, weil es der Ukraine offenbar gelingt, die Krim zu belagern. „Die Schwarzmeerflotte, ihr Treibstoff, ihre Munition, ihre Reparaturwaffen und ihre Infrastruktur sind jetzt gefährdet“, heißt es in seinem Twitter-Beitrag.
Die Ukrainer haben Ryans Einschätzung nach entweder ein Interesse daran, die Krim mittelfristig zurückzuerobern. Oder sie nutzen sie kurzfristig, um Russland strategisch unter Druck zu setzen.
Die Explosionen auf der Halbinsel geben den ukrainischen Soldaten, aber auch den normalen Bürgern, aus Ryans Sicht letztlich einen „Moralschub“. Und: „Sie zeigen westlichen Nationen, dass die Ukraine immer noch unterstützenswert ist, unabhängig von den Energiekosten in Europa.“
Wie geht es jetzt weiter?
Am Mittwochabend erinnerte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videoansprache an die Explosionen auf der Krim. Dort seien auf einen Schlag mehrere russische Kampfflugzeuge zerstört worden.
Außerdem rief er die Bewohner der von Russland besetzten Gebiete zum Widerstand auf. Sie sollten den ukrainischen Streitkräften über sichere Kanäle Informationen zum Feind oder über Kollaborateure übermitteln, sagte Selenskyj.
Der Staatschef äußerte auch die Erwartung, dass die russischen Besatzer bald die Flucht ergreifen. „Sie haben bereits das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist, aus Cherson und im Allgemeinen aus dem Süden unseres Landes zu fliehen. Es wird eine Zeit geben, in der sie aus dem Gebiet Charkiw, aus dem Donbass und von der Krim fliehen werden.“