Alles Wichtige zur Wahl in Niedersachsen
9. Oktober 2022Selten war eine Landtagswahl so von bundespolitischen Themen überlagert wie in Niedersachsen. Dabei hat das Land selbst genug zu bieten – auch politische Baustellen. Wer antritt und was noch wichtig ist.
Die Ausgangslage
Die Abstimmung in Niedersachsen ist die letzte Landtagswahl in diesem Jahr. In dem Bundesland regiert seit 2017 eine Koalition aus SPD und CDU unter Führung von SPD-Ministerpräsident Stephan Weil. Diese Konstellation ist in dem Bundesland eher untypisch und war allein dem Umstand geschuldet, dass es für ein Bündnis mit den Grünen nicht reichte, die FDP für eine Ampel nicht zur Verfügung stand und die Grünen nicht für Jamaika. Die SPD/CDU-Regierung ist derzeit die einzige dieser Art in Deutschland.
Niedersachsen ist ein Land, in dem sich die Mehrheitsverhältnisse häufiger änderten. SPD und CDU hatten dabei abwechselnd für längere Phasen die Nase vorn. Vor neun Jahren übernahm die SPD mit Weil die Regierung und bildete eine Koalition mit den Grünen. Zusammen hatten sie im Landtag eine Stimme Mehrheit. Als die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten zur CDU wechselte, war die hauchdünne Mehrheit dahin. Es gab eine vorgezogene Neuwahl, drei Wochen nach der Bundestagswahl 2017 stimmten die Niedersachsen über ein neues Landesparlament ab. Weil holte für die SPD einen überraschenden Wahlsieg – Balsam für die Sozialdemokraten, die gerade die Bundestagswahl haushoch verloren hatten.
Niedersachsen in Zahlen
Das Flächenland steht mit rund 47.600 Quadratkilometern unter den 16 deutschen Ländern auf dem zweiten Platz hinter Bayern. Rund acht Millionen Menschen wohnen in Niedersachsen, das ist Platz vier deutschlandweit. Auf dem Spitzenplatz rangiert das Bundesland in einer anderen Kategorie: Mit seinen neun Nachbarn Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Hessen und Nordrhein-Westfalen ist es das Land mit den meisten Anrainern. Außerdem steht in Niedersachsen Deutschlands größter Gasspeicher, was vor dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem Gaslieferstopp jedoch nur interessierten Kreisen bekannt war.
Auch bundespolitisch hat Niedersachsen Gewicht: Im Bundesrat hat das Land sechs der 69 Stimmen, mehr haben auch Bayern, Baden-Württemberg oder NRW nicht. Knapp 6,1 Millionen Wahlberechtigte können heute ihre zwei Stimmen abgeben. 21 Parteien stehen zur Wahl. In 87 Wahlkreisen treten 756 Bewerberinnen und Bewerber an bei einem Frauenanteil von rund einem Drittel. Die Grünen sind die einzige Partei, bei denen mehr Frauen als Männer antreten. Die jüngste Kandidatin ist Zara Tas von der FDP (19), der jüngste Kandidat ist der ebenso 2003 geborene Parmveer Singh von den Humanisten. Ältester Bewerber ist der 85-jährige Peter Jürgen Würdig von der AfD.
2017 lag die Wahlbeteiligung bei 63,1 Prozent. Derzeit sind vier Parteien in Fraktionsstärke im Landtag vertreten – SPD, CDU, Grüne und FDP. Die AfD hat ihren Fraktionsstatus nach Streitigkeiten und mehreren Austritten im Jahr 2020 verloren. Die Linkspartei schaffte 2008 zuletzt den Einzug in den Landtag.
Heile Welt im Flächenland: Lämmer stehen in der Sonne auf dem Deich in Emden. Bild: dpa
Niedersachsen? Da kommt doch … her?
An Ernst Albrecht erinnern sich vermutlich nur noch die Älteren. Der Vater von Ursula von der Leyen regierte das Land von 1976 bis 1990. Gerhard Schröder dürfte dagegen weit mehr Menschen präsent sein. Der SPD-Politiker war von 1990 bis 1998 Ministerpräsident, danach wechselte er bekanntlich in die Bundespolitik. Inzwischen ist Schröder vor allem ein Ärgernis für seine Partei, sie würde den Politik-Rentner und Putin-Freund am liebsten loswerden. Auch nicht immer einfach für die SPD war der niedersächsische Genosse Sigmar Gabriel. Bei der CDU durchlebten sie schwere Zeiten mit Christian Wulff. Weitere bundesweit bekannte Namen aus Niedersachsens Politik: Lars Klingbeil, Hubertus Heil, Tilman Kuban, Christian Dürr, Konstantin Kuhle, Jürgen Trittin.
Mit welchen Spitzenleuten treten die Parteien an?
Mit einer Mischung aus altbekannten und neuen Gesichtern. Während SPD, CDU und FDP auf das gleiche Spitzenpersonal wie 2017 setzen, haben sich Grüne und AfD personell neu formiert. Ein kurzer Überblick:
Stephan Weil:
Er hat schon mal mit den Grünen regiert, zuletzt war sein Koalitionspartner allerdings die CDU: Weil führt das Land seit 2013 und könnte nun den Rekord von Ernst Albrecht als Ministerpräsident mit der längsten Amtszeit in Niedersachsen brechen. Der 63-Jährige wurde in Hamburg geboren, kam allerdings schon im Alter von sechs Jahren nach Hannover. Er war Anwalt und Richter, später Kämmerer und Oberbürgermeister in Hannover.
Bernd Althusmann:
Der 55 Jahre alte Wirtschaftsminister ist seit 2017 auch Weils Stellvertreter. Althusmann wurde in Oldenburg geboren, war Offizier der Bundeswehr, studierte Pädagogik sowie Betriebswirtschaft. Von 2010 bis 2013 war er Kultusminister, zweieinhalb Jahre lang leitete er in Afrika die Vertretung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung für Namibia und Angola. Bei der vergangenen Wahl scheiterte er als CDU-Kandidat knapp am Ministerpräsidenten Weil.
Julia Willie Hamburg:
Im Jahr 2013 zog sie als jüngste Abgeordnete in den niedersächsischen Landtag ein, jetzt will sie die Grünen in die Regierung führen. Dabei ist Julia Willie Hamburg nur ein Teil des Spitzenduos ihrer Partei. Mit Listenplatz 1 ist sie allerdings deutlich präsenter als Co-Kandidat Christian Meyer. 2020 übernahm sie den Fraktionsvorsitz. Die 36-Jährige wird über Parteigrenzen hinweg respektiert – beides könnte ihr in Koalitionsverhandlungen zugutekommen.
Stefan Birkner:
Der gebürtige Schweizer ist seit 2011 FDP-Landesvorsitzender, seit 2017 Fraktionsvorsitzender im Landtag. Der Jurist war von 2008 bis 2012 Staatssekretär im niedersächsischen Umweltministerium, anschließend übernahm er für rund ein Jahr den Ministerposten. Für den Koalitionsvertrag der Ampel im Bund hat Birkner den Bereich Umwelt- und Naturschutz mitverhandelt. Auf Landesebene lehnte er ein Bündnis mit SPD und Grünen 2017 jedoch ab. Birkner ist Schwippschwager von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck.
Stefan Marzischewski-Drewes:
Der AfD-Politiker gilt als gemäßigt und hat als landespolitischer Neuling Ruhe in die oft zerstrittene Partei gebracht. Der Gifhorner Facharzt für Radiologie und Allgemeinmedizin will die 6,2 Prozent seiner Partei von 2017 verdoppeln. Bislang ist er Fraktionsvorsitzender der AfD in Gifhorn.
Was war im Wahlkampf wichtig?
Die Folgen des Krieges gegen die Ukraine bestimmen den Alltag vieler Menschen – und haben daher auch den Wahlkampf in Niedersachsen geprägt. Vor allem die CDU attackierte die Energiepolitik und die Entlastungspakete der Bundesregierung immer wieder massiv.
Genauso wurde die bundesweite Debatte über die Verlängerung der AKW-Laufzeiten regional geführt – mit dem Atomkraftwerk Lingen im Emsland liegt eines der betroffenen Kernkraftwerke in Niedersachsen. Für Weil ist eine Verlängerung der Laufzeiten nicht nötig. Althusmann hält den Weiterbetrieb aller drei noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland hingegen für „zwingend erforderlich“. Weil kündigte für die SPD im Fall eines Wahlsiegs etwa ein landeseigenes Entlastungsprogramm über knapp eine Milliarde Euro an.
Auch ein klassisches Landesthema spielte im Wahlkampf eine Rolle: die Bildung. Und auch hier gibt es naturgemäß unterschiedliche Positionen bei SPD und CDU. Die Förderschulen „Lernen“ sollen 2028 auslaufen. Die CDU will sie weiterführen und im Schulgesetz absichern. Lehrermangel und Digitalisierung sorgten ebenfalls für Debatten.
Wie schauen die Berliner Ampel-Parteien auf die Wahl?
Auch wenn die Parteien die Bedeutung von Landtagswahlen für die Bundesebene gerne kleinreden, vor allem, wenn es nicht gut gelaufen ist: Diese Abstimmung in Niedersachsen ist auch eine Abstimmung über die Krisenpolitik der im Bund regierenden Ampel-Koalition. Landespolitische Themen standen während des Wahlkampf weitgehend im Hintergrund. Viele Wählerinnen und Wähler interessierte vor allem, wie sie die immer höheren Energiepreise bezahlen sollen. Und bei der Krisenpolitik gaben die drei Ampel-Partner zuletzt kein harmonisches Bild ab – trotz milliardenschwerer Entlastungspakete. Die Zufriedenheit mit der Ampel nahm denn auch ab, anders als die Verunsicherung vieler Menschen angesichts sich überlappender Krisen.
Für die Kanzler-Partei wäre ein Wahlsieg Weils enorm wichtig, das letzte Erfolgserlebnis auf Landesebene war im Frühjahr – im kleinen Saarland. In Schleswig-Holstein und NRW hatten die Genossen dagegen nichts zu gewinnen. Anders in Niedersachsen: Hier hat die SPD viel zu verlieren – seit fast zehn Jahren ist das Land in SPD-Hand. Ein Machtverlust in Hannover würde die Bundes-SPD erschüttern und wenigstens eine Debatte über Kurs und Führungsstil des Kanzlers zur Folge haben. Und das im Herbst 2021 ausgerufene „sozialdemokratische Jahrzehnt“ wäre schon wieder vorbei. Reicht es hingegen für Rot-Grün in Niedersachsen, wäre die sozialdemokratische Welt sehr in Ordnung.
Politikerzufriedenheit
Eine Regierungsbeteiligung würde auch die Bundes-Grünen stabilisieren. Denn spätestens seit dem Theater um die Gasumlage steht ein grüner Vorzeigeminister schwer in der Kritik: Robert Habeck. Auch die Zufriedenheitswerte für Annalena Baerbock sanken. Die Partei muss derzeit Entscheidungen verargumentieren, die bis vor wenigen Monaten undenkbar schienen: Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet, längere Laufzeiten für AKW, mehr Kohleförderung. Alles kein Rückenwind für den traditionell linken Landesverband in Niedersachsen. Doch selbst wenn es nicht zu einer Regierungsbeteiligung kommen sollte, steuert die Partei auf ein Rekordergebnis zu, das man als Erfolg verkaufen kann.
Allzu offensiv freuen sollten sich die Grünen aus Rücksicht auf den Berliner Koalitionsfrieden aber nicht. Schon gar nicht, wenn die FDP in Niedersachsen aus dem Landtag fliegen sollte. Es wäre der vierte Misserfolg bei Landtagswahlen in Folge – und würde diejenigen Stimmen bestätigen, die das Mitregieren der FDP in der Ampel immer schon für einen Fehler hielten. Nun dürfte es auch in der FDP-Führung niemanden geben, der ernsthaft die Regierung in diesen Krisenzeiten platzen lassen will, aber es könnte ruppiger werden. Vor allem zwischen Liberalen und Grünen.
… und wie die Merz-CDU?
Eine Zeit lang sah es so aus, als hätte Friedrich Merz einen Lauf und die Partei ihre Rolle als erste Ampel-Kritikerin gefunden. Auch bei den zwei Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW lief es nach Plan. Dass die Serie aber auch in Niedersachsen hält, gilt als wenig wahrscheinlich. Selbst wenn es der Landespartei entgegen der jüngsten Umfragen gelingen sollte, stärkste Kraft zu werden, hat sie nur geringe Aussichten, die nächste Regierung zu führen: Die FDP ist viel zu schwach, die Grünen würden wohl eher mit der SPD koalieren und umgekehrt. Dabei könnte Merz gerade jetzt einen Erfolg gut gebrauchen. Zuletzt tat er sich schwer mit der richtigen Balance zwischen kritischer und konstruktiver Opposition, mit Behauptungen über „Sozialtourismus“ von Ukraine-Flüchtlingen sorgte er für breite Empörung, ruderte dann zurück – und legte später nochmal nach.
Wie könnte es weitergehen?
Wohl nicht mehr so wie bisher. Eine Große Koalition ist sehr unwahrscheinlich. Weil hat bisher nicht verborgen, dass er Rot-Grün favorisiert. Mit der Partei hat er bereits von 2013 bis 2017 regiert.
Althusmann will – bei einem Wahlsieg – ebenso mit den Grünen sprechen, um ein rot-grünes Bündnis zu verhindern. Grünen-Spitzenkandidat Meyer hat Schwarz-Grün aber weitgehend ausgeschlossen, ohnehin ist angesichts der Vorwahlumfragen ungewiss, ob beide Parteien gemeinsam eine Mehrheit hätten. Einer Neuauflage der Großen Koalition mit der SPD zeigt sich Althusmann hingegen nicht ganz abgeneigt – aber möglichst unter eigener Führung.
Und dann gibt es noch die FDP, die sich offenbar vieles vorstellen kann. FDP-Generalsekretär Christian Grascha hat bereits deutlich gemacht, dass jede Koalition, an der die FDP beteiligt sei, besser sei „als eine Koalition, an der die FDP nicht beteiligt ist“.
Nach den Umfragen könnte es bisher für Rot-Grün knapp reichen. Auch eine Ampel könnte infrage kommen. Jamaika würde ebenso eine Option, wenn die CDU die SPD noch überholt und Grüne und FDP erfolgreich umwirbt.
Schafft es die FDP nicht wieder in den Landtag, hätte Rot-Grün eine komfortable Mehrheit. Doch auch Schwarz-Grün und natürlich eine Große Koalition wären denkbar, wenn auch politisch unwahrscheinlicher.
Nach der Landtagswahl in Niedersachsen ist dieses Wahljahr beendet. Bis Mitte Mai ist eigentlich erstmal Ruhe, dann wird in Bremen gewählt. Mit Bayern und Hessen folgen dann im Herbst die Schwergewichte. Eine Planänderung im Wahlkalender ist jedoch denkbar: Gut möglich, dass in Berlin die Abgeordnetenhauswahl wegen diverser Pannen wiederholt werden muss. Das entscheidet sich Mitte November per Gerichtsurteil. Bis Mitte Februar müssten dann in Berlin Neuwahlen stattfinden.