„Leben in einer gefährlichen Situation“
16. Oktober 2022Ein Atomwaffen-Einsatz in der Ukraine würde „die Natur des Konflikts völlig verändern“, sagt NATO-Generalsekretär Stoltenberg im ARD-Interview. Man sei auf Hybridangriffe vorbereitet. Er beschreibt, wie die Bündnisstaaten ihre Infrastruktur schützen und der Krieg enden kann.
ARD: Die Lage in der Ukraine ist momentan das Gesprächsthema, gleichzeitig sehen wir aber auch die Explosionen an der Nord-Stream-Pipeline, die Sabotage an der Deutschen Bahn, den fragwürdigen Stromausfall auf Bornholm. Kommt der Krieg näher an uns heran?
Jens Stoltenberg: Wir leben in einer gefährlichen Situation, die durch Russlands brutalen Einmarsch in der Ukraine und auch durch die bedrohliche Rhetorik, die wir aus Moskau und von Russlands Präsident Wladimir Putin gehört haben, verursacht wurde. Aber das ist der Grund, warum wir eine Vereinbarung zum Schutz aller Verbündeten haben, um einen Krieg zu verhindern, um einen Angriff auf die Verbündeten zu verhindern.
ARD: Auch wenn niemand genau weiß, wer hinter den Ereignissen steht, die ich gerade erwähnt habe, sehen wir doch, dass sie sich häufen. Erkennen Sie darin ein Muster?
Stoltenberg: Ich werde mich mit Spekulationen zurückhalten, bis wir mehr Fakten aus den Ermittlungen haben. Ich begrüße die laufenden Ermittlungen in den verschiedenen Fällen, die Sie erwähnt haben. Aber die NATO befasst sich natürlich auch mit dem, was wir als hybride Bedrohung bezeichnen, also nicht mit einem klassischen oder bewaffneten Angriff auf ein Land, sondern mit Cyberangriffen, Sabotage und dieser Art von Bedrohung. Und wir haben uns seit vielen Jahren mit der Bedeutung der Widerstandsfähigkeit unserer kritischen Infrastrukturen befasst, und wir tauschen auch mehr Informationen aus. Wir sind also darauf vorbereitet, auch auf diese Art von hybriden Angriffen zu reagieren.
Jens Stoltenberg, geboren 1959 in Oslo, ist seit 2014 NATO-Generalsekretär. Zuvor war er zwei Mal norwegischer Ministerpräsident, zuletzt von 2005 bis 2013.
„Moral russischer Truppen niedriger“
ARD: Ihr Heimatland Norwegen ist inzwischen der wichtigste Gaslieferant für Europa. Glauben Sie, dass Norwegen besonders gefährdet sein könnte, sollte diese Bedrohung von Russland ausgehen?
Stoltenberg: Norwegen hat den Schutz seiner Energieinfrastruktur, einschließlich der Ölplattformen und der Gaspipelines, verstärkt, und auch Verbündete wie Deutschland, das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten, Frankreich und andere haben ihre Präsenz in der Nordsee verstärkt, um die kritische Infrastruktur dort zu schützen. Das ist natürlich für ganz Europa und für die NATO-Verbündeten wichtig, denn Energie ist extrem wichtig, gerade jetzt wo, wir uns dem Winter nähern.
ARD: Lassen Sie uns einen Blick auf die Ukraine werfen. Wie würden Sie das Gleichgewicht zwischen der russischen und der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld einschätzen?
Stoltenberg: Der Mut und die Entschlossenheit der Ukrainer ist viel höher als bei den russischen Streitkräften. Deren Moral ist niedriger. Hinzu kommt, dass die Ukrainer erfahrener sind. Denn seit 2014 haben NATO-Verbündeten die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet. Die ukrainischen Streitkräfte sind also viel besser ausgebildet, viel besser geführt, viel besser ausgerüstet und viel größer als im Jahr 2014. Und das ist der Grund, warum die Ukraine jetzt in der Lage ist, sich auf ganz andere Weise zu wehren als 2014, als Russland zum ersten Mal einmarschierte und die Krim illegal annektierte.
„Atomkrieg ist nicht zu gewinnen“
ARD: Dennoch: Russland ist eine Atommacht und Putin droht offenbar damit, diese Macht einzusetzen. Der US-Präsident Joe Biden sprach von Armageddon. Wie viel Angst haben Sie?
Stoltenberg: Russland weiß, dass ein Atomkrieg nicht zu gewinnen ist und niemals geführt werden darf. Russland weiß auch – das haben die NATO und ihre Bündnispartner klar zum Ausdruck gebracht -, dass der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine die Natur des Konflikts völlig und grundlegend verändern würde.
ARD: Aber in welchem Sinne?
Stoltenberg: Dazu werde ich nicht ins Detail gehen. Klar ist jedoch, dass es schwerwiegende Konsequenzen für Russland haben würde und das haben unsere Verbündeten Russland auf unterschiedliche Weise vermittelt, denn jeder Einsatz von Atomwaffen, auch kleinerer Atomwaffen, bedeutet, dass eine sehr entscheidende Linie überschritten wurde.
„Putin kann den Krieg morgen beenden“
ARD: Haben Sie nach acht Monaten Beschäftigung mit der Ukraine und dem Versuch, Unterstützung für das Land zu organisieren, eine Vorstellung davon, wie dieser Konflikt enden könnte? Gibt es eine Chance für eine diplomatische Lösung?
Stoltenberg: Wir alle wollen, dass dieser Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Die NATO und ihre Bündnispartner waren stark in verschiedene diplomatische Bemühungen vor dem Krieg involviert, um die russische Invasion zu verhindern. Wir hatten Treffen im NATO-Hauptquartier, dem NATO-Russland-Rat, aber Präsident Putin beschloss, in ein Nachbarland, die Ukraine, einzumarschieren, und er begann den Krieg. Und er kann den Krieg morgen beenden, indem er die russischen Streitkräfte abzieht.
Ich denke, wir müssen verstehen, dass die Ukraine, wenn sie aufhört zu kämpfen, aufhören wird als unabhängige, souveräne Nation zu existieren. Wenn Putins Russland aufhört zu kämpfen, dann werden wir Frieden haben. Russland muss also aufhören zu kämpfen. Russland muss seine Streitkräfte abziehen. Das ist der beste Weg zu einer friedlichen Lösung in der Ukraine.
Das Gespräch führte Markus Preiß, ARD-Studio Brüssel.
Das Interview und weitere Beiträge sehen Sie am Sonntag, 16.10.2022 um 12.45 Uhr im „Europamagazin“.