FAQ – Gesetz soll Hartz IV ablösen Das sind die Knackpunkte beim Bürgergeld
2. November 2022Die Union setzt die Ampel-Regierung beim Bürgergeld unter Druck. Sie fordert weitreichende Änderungen und droht ansonsten mit Blockade. Was sind die Knackpunkte und wie könnte ein Kompromiss aussehen?
Die Ausgangslage
Eigentlich ist das Bürgergeld auf der politischen Zielgeraden. Zum 1. Januar soll es Hartz IV ablösen. Der Gesetzentwurf aus dem Hause von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil liegt fertig vor, aber schon bei der ersten Beratung im Bundestag Mitte Oktober zeigten sich erhebliche Differenzen zwischen Regierung und Opposition.
Im Bundesrat forderten die Länder Nachbesserungen, insbesondere mit Blick auf die Kostenverteilung. Das Gesetz ist zustimmungspflichtig, ohne die Länder geht es also nicht. Die Union droht jetzt damit, das Gesetz zu blockieren. Dann wäre der Vermittlungsausschuss am Zug, und ein Start zum 1. Januar unrealistisch.
Die Ampel-Regierung muss daher auf die Union zugehen und schnell einen Kompromiss finden. Die Union wiederum muss aufpassen, nicht als Blockierer der Sozialreform dazustehen. Immerhin geht es um konkrete Hilfen für Millionen Menschen in Zeiten hoher Lebensmittelpreise und teurer Energie.
Was kritisiert die Union am Bürgergeld?
Für höhere Regelsätze zum Jahreswechsel sind auch CDU und CSU angesichts der Inflation. Sie sollen um rund 50 Euro steigen, auf 502 Euro für alleinstehende Erwachsene. Die Kritik der Union richtet sich vielmehr gegen einzelne Regeln, die in der Summe ihrer Ansicht nach „falsche Anreize“ setzen. Die Knackpunkte für die Union lauten: Schonvermögen, Vertrauenszeit, Wohnungsgröße.
So sollen in den ersten beiden Jahren des Bürgergeld-Bezugs die tatsächlichen Kosten der Wohnung anerkannt werden, auch wenn diese größer und teurer ist und über dem als „angemessen“ eingestuften Niveau liegt. Der Druck, sich schnell eine kleinere Wohnung zu suchen, fällt damit weg. Außerdem hält die Union das geplante Schonvermögen für zu hoch. Vermögen bis 60.000 Euro und für jede weitere Person im Haushalt bis 30.000 Euro sollen nicht angerechnet werden. Möglichkeiten zur Kürzung von Leistungen sollen mit dem Gesetz in den ersten sechs Monaten, der sogenannten Vertrauenszeit, eingeschränkt werden, wenn beispielsweise eine zumutbare Arbeit nicht angenommen wird. Dadurch sinke der Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, anstatt staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Knackpunkt „Vertrauenszeit“
Der Entwurf von Bundesarbeitsminister Heil sieht vor, dass die Arbeitssuchenden mit den Jobcentern einen Kooperationsplan vereinbaren. Am Anfang steht dabei eine halbjährige „Vertrauenszeit“, in der den Betroffenen nur eingeschränkt Leistungskürzungen drohen – und zwar, wenn sie mehrfach einen Termin beim Jobcenter verpassen. In diesem Fall ist eine zehnprozentige Leistungskürzung möglich. Nach den sechs Monaten drohen zusätzlich weitere Leistungskürzungen bei sogenannten Pflichtverletzungen – etwa, wenn der Betroffene eine zumutbare Stelle nicht antritt. Dies bringt beim ersten Mal eine Kürzung von 20 Prozent mit sich. Beim zweiten Mal sind es dann 30 Prozent. Nicht mehr zulässig sind Abzüge bei den Kosten der Unterkunft.
Kontra: Der Union geht eine sechsmonatige „Vertrauenszeit“ zu weit. Stichwort: soziale Hängematte. Die Union spricht von „falschen Anreizen“. Das Prinzip des Förderns und Forderns dürfe nicht ausgehöhlt werden“, sagte der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion im Bundestag, Axel Knoerig (CDU). Und CSU-Chef Markus Söder nannte es „völlig absurd“, dass trotz Arbeitskräftemangels „nicht einmal die Möglichkeit bestehen könnte, jemanden zu motivieren, eine Arbeit anzunehmen“.
Auch Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft spricht von falschen Signalen. Seiner Ansicht nach werde das Bürgergeld für sechs Monate „fast zur universellen Sozialleistung, ohne dass eine Gegenleistung verlangt wird“. Sanktionen hätten eine gut belegte positive Wirkung auf die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger warnte: „Das Bürgergeld droht, unsere Gesellschaft zu spalten.“ Es könne nicht sein, dass ein Teil der Menschen, die morgens zur Arbeit gehen, nur wenig mehr Geld zur Verfügung hätten als jemand, der morgens nicht zur Arbeit gehe.
Pro: Dieser Kritik tritt der Armutsforscher Christoph Butterwegge entgegen. Die Annahme, dass nach der Einführung des Bürgergelds kaum noch jemand arbeiten wolle, sei typischer Sozialneid nach unten und widerspreche der Realität. „Denn fast eine Million der Hartz-IV-Bezieher gehen arbeiten, obwohl sie von ihrem Lohn nicht leben können.“ Der Grünen-Sozialpolitiker Frank Bsirske betont: „Fakt ist: Es lohnt sich immer, arbeiten zu gehen, statt Bürgergeld zu beziehen. Sanktionen bleiben auch in Zukunft möglich.“
Auch der Duisburger Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker widersprach der Behauptung, Bezieher des Bürgergeldes hätten höhere Einkünfte als Erwerbstätige mit einem niedrigen Arbeitseinkommen: „Wer nur auf die Regelsätze der Grundsicherung abstellt, argumentiert unseriös.“ Denn eine Beschäftigte etwa, die zum gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro arbeitet, habe – im Unterschied zu Bezieherinnen und Bezieher des Bürgergeldes – möglicherweise noch zusätzlich Anspruch auf Wohngeld. Wenn Kinder zu unterhalten sind, erhalte sie Kindergeld sowie Kinderzuschlag.
Auch sei die Sozialleistung nicht zu hoch: „Jeder, der glaubt, mit einem Regelbedarf von 502 Euro, den es ab Januar 2023 für eine alleinstehende Person geben soll, ein ‚angenehmes‘ Leben zu führen, soll das einmal für sich selbst ausprobieren“, sagte Bäcker dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Ähnlich argumentiert VdK-Präsidentin Verena Bentele: „Wenn jetzt Stimmen aus Handwerk, Industrie und Politik laut werden, dass mit dem geplanten Bürgergeld das Nicht-Arbeiten immer attraktiver wird, dann kann ich denen nur entgegnen: Wir brauchen höhere Löhne im Niedriglohnsektor. Bürgergeld-Empfänger sollen nicht gegen Niedriglöhner ausgespielt werden. Die Erhöhung um 50 Euro im Monat ist nur ein längst überfälliger Inflationsausgleich, der ein Jahr zu spät kommt. Von 502 Euro im Monat bei galoppierender Inflation leben zu müssen – das ist definitiv nicht ausreichend. Das neue Bürgergeld muss ein menschenwürdiges Leben in diesen unruhigen Zeiten mit steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen ermöglichen.“
Knackpunkt Schonvermögen
In den ersten 24 Monaten sollen Leistungen dann gewährt werden, wenn kein „erhebliches Vermögen“ vorhanden ist. Hier gilt dann die Grenze von 60.000 Euro für den eigentlichen Leistungsbezieher und 30.000 Euro für jeden weiteren Menschen in der Bedarfsgemeinschaft. Bei einer vierköpfigen Familie wären dadurch 150.000 Euro Erspartes geschützt. Das langfristige Schonvermögen soll auf 15.000 Euro erhöht werden. Zudem wird dann nicht mehr geprüft, ob das eigene Auto oder die eigene Wohnung angemessen sind.
Kontra: CDU-Generalsekretär Mario Czaja kritisierte die Höhe des Schonvermögens als zutiefst unsozial gegenüber Familien, die arbeiteten und Steuern zahlten und damit das Bürgergeld finanzieren müssten. Auch der Bundesrechnungshof bezeichnete die Freigrenzen als „unverhältnismäßig hoch“. Der Bundeshaushalt sollte demnach „nicht mit dem Leistungsbezug von Personen belastet werden, bei denen grundsätzlich von einer ausreichenden Eigenleistungsfähigkeit ausgegangen werden kann.“
Der Deutsche Städtetag hält es für „ein falsches Signal, dass zwei Jahre lang das Vermögen keine Rolle spielt, wenn jemand Bürgergeld beantragt. Diese Karenzzeit muss deutlich verkürzt werden und sollte maximal ein Jahr betragen“, so Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Insgesamt aber sei „das Bürgergeld ist eine gute Sache“.
Pro: Betroffene sollten „den Kopf frei haben sich zu qualifizieren und weiterzubilden, neue Arbeit zu suchen und sollen sich nicht rumschlagen müssen“ mit dem Aufbrauchen von Vermögenswerten oder dem Auszug aus der bisher bewohnten Wohnung, verteidigte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert im Deutschlandfunk die Pläne. Er verwies zudem darauf, dass das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger bereits im Zuge der Corona-Pandemie von der Großen Koalition, also von der Union selbst, auf 60.000 Euro erhöht wurde.
Nach Ansicht von VdK-Präsidentin Bentele ist es sinnvoll, dass Menschen, „die eine Weile keine Arbeit finden“, nicht gleich ihr ganzes Geld „für die Altersvorsorge oder ähnliches aufbrauchen müssen“.
Wie reagiert die Ampel-Regierung?
Vor allem für die federführende SPD geht es beim Bürgergeld um ihr Prestigeprojekt, mit dem sie endlich das Hartz-IV-System loswerden kann. Entsprechend empört sind die Reaktionen auf die Unions-Drohungen. Von „blankem Populismus“ und „schamlosen Falschaussagen“ ist die Rede. Doch auch die FDP, die anfangs noch politische Bauchschmerzen mit dem Bürgergeld hatte, mahnt nun: Es sei nicht die Zeit „für parteitaktische Manöver“. Verzögerung und Blockade hätten nichts mit Verantwortung zu tun, so Generalsekretär Bijan Djir-Sarai.
Die Ampel-Parteien zeigen sich aber offen für Gespräche – müssen sie ja auch. „Wenn die unionsgeführten Bundesländer beim Bürgergeld Detailfragen klären wollen, sind wir dazu bereit“, sagte SPD-Chefin Saskia Esken. Nicht verhandelbar sei allerdings, dass es bei der Einführung des Bürgergelds zur Überwindung von Hartz IV „in erster Linie um Respekt“ gehe. Über einen Ausgleich der Inflation hinaus müssten Wege zur nachhaltigen Überwindung der Notlage von Menschen eröffnet werden. Ähnlich äußerte sich Grünen-Chefin Ricarda Lang. „Man kann über alles gerne reden“, sagte sie Richtung Union. Beim Streitthema Schonvermögen sehe sie aber wenig Spielraum: Die geplante Regelung in diesem Bereich sei „ein zentraler Bestandteil dieses Bürgergelds“.
Wie könnte ein Kompromiss aussehen?
Möglich wäre, das Gesetz zu teilen. Denn die Erhöhung der Regelsätze um den Inflationsausgleich befürwortet ja auch die Union. Dieser Teil könnte also wie geplant zum 1.1.2023 in Kraft treten, wie Unions-Fraktionsvize Hermann Gröhe in der „Rheinischen Post“ skizzierte. „Dafür gibt es Mittel und Wege auch außerhalb des Bürgergeld-Gesetzes“, sagte der CDU-Politiker.
Eine andere Möglichkeit: mehr Geld. In Vermittlungsverfahren setzen die Bundesländer oft durch, dass sie vom Bund für die Umsetzung des betreffenden Gesetzes mehr Geld bekommen. Das könnte auch hier Teil eines Kompromisses sein. Der Bundesrat hatte zuletzt in einer Stellungnahme zum Bürgergeldgesetz die Ampelregierung bereits dazu aufgefordert, die Kosten zu überprüfen und Mehrkosten für Kommunen und Länder auszugleichen.
Wie geht es weiter?
Im Bundestag steht die Verabschiedung des Bürgergeld-Gesetzes momentan für nächste Woche Donnerstag auf der Tagesordnung. Danach muss noch der Bundesrat entscheiden. Wenn das Gesetz dort keine Mehrheit bekommt, käme der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat zum Zug. Ein dort ausgehandelter Kompromiss müsste dann aber erneut von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Ob das Bürgergeld dann wirklich zum 1. Januar starten kann, ist sehr fraglich.
Bundeskanzler Olaf Scholz will sich mit derlei Pessimismus nicht aufhalten: Er sei sehr zuversichtlich, dass das Gesetzgebungsvorhaben vor dem Jahreswechsel zum Abschluss gebracht werde. „Die Zuversicht ist groß.“