Analyse: Linkspartei und Wagenknecht Total zerrüttet
3. Dezember 2022Spekulationen über eine Spaltung umgeben die Linkspartei schon lange. Die Blicke richten sich auf Sahra Wagenknecht – macht sie Ernst und gründet eine eigene Partei? Unter Linken wächst die Nervosität.
„Meine Partei ist in einem fürchterlichen Zustand“, sagt ein Mann, der es wissen muss, weil er die Linke seit vielen Jahren kennt und an maßgeblicher Stelle für sie arbeitet. Namentlich möchte er aber nicht genannt werden. Steht die Linke also vor einer (Ab-)Spaltung? Die Antwort ist deutlich: „Es gibt einen Riss, so tief wie noch nie, bis tief in die Basis hinein.“
Wann immer man in den vergangenen Monaten mit Politikerinnen und Politikern der Linken gesprochen hat, stieß man auf Frust und Wut. Jetzt ist da oft nur noch ein Kopfschütteln. Viele in der Partei sind in die innere Immigration gegangen.
Für einige dieser Leute ist Sahra Wagenknecht eine Hoffnungsträgerin. Sie wünschen sich, dass die derzeit populärste linke Politikerin austritt und eine eigene Partei gründet. Der Klassenkampf solle dann wieder im Vordergrund stehen, Einstehen für Arbeiter, Familien Rentnerinnen und Rentner. Dazu noch eine ausgestreckte Hand Richtung Russland und keine Waffenlieferungen an die Ukraine.
Aufmerksamkeit erzielt die Linkspartei gerade vor allem mit Meldungen über Austritte und Streit. Bild: dpa
Potenzial hätte eine Wagenknecht-Partei offenbar. Laut Meinungsforschungsinstitut INSA würden sie zehn Prozent aller Wahlberechtigten deutschlandweit wählen, weitere 30 Prozent könnten es sich zumindest vorstellen. Das wäre eine enorme politische Mobilisierung, meint die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach von der FU Berlin: „Dabei würde man aber womöglich in Kauf nehmen, Stimmen von ganz rechts zu bekommen, denn schon jetzt wird Wagenknecht in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen und damit auch unter vielen AfD-Anhängerinnen und Anhängern gehyped.“
Parteigründung ist schwierig
Wagenknecht selbst reagiert nicht ablehnend auf die Frage, ob sie eine eigene, neue Partei gründen will. „Eine vernünftige Partei für Frieden und Gerechtigkeit halte ich für dringend notwendig. Die Linke hat diesen Platz leider weitgehend geräumt. Auch deshalb ist es aktuell vor allem die AfD, die von der zunehmenden Unzufriedenheit profitiert.“
Aber eine Partei gründet sich nicht so einfach. Wagenknecht hängt der Misserfolg mit ihrem Projekt „Aufstehen“ noch nach. Sie selbst sagt heute, dass „Aufstehen“ unvorbereitet war. Diesen Fehler will sie nicht nochmal machen. Und ihr ist auch klar: Organisation ist nicht ihre Stärke. Wer in Deutschland eine Partei gründen will, der muss eine Satzung formulieren, Unterschriften sammeln, viel Bürokratie durchdringen. Das alles gehört nicht zu Wagenknechts Kernkompetenzen. Selbst ihre Gegner sehen in ihr eine begnadete Rednerin mit einem Talent, populäre Meinungen aufzugreifen und zu fokussieren. Aber Gremien leiten, Teamarbeit, Kompromisse finden, das kann Sahra Wagenknecht nicht gut.
Wagenknecht-Partei zur Europawahl?
Politikwissenschaftlerin Reuschenbach hält eine Abspaltung bei der Linkspartei für durchaus möglich: „Das Verhältnis zwischen der Partei und Sahra Wagenknecht und ihren Anhängerinnen und Anhängern ist inzwischen total zerrüttet, daher scheint eine Spaltung tatsächlich nicht mehr ausgeschlossen. Derzeit gibt es Hinweise darauf, dass eine solche Partei erstmals zur Europawahl 2024 antreten könnte. Hat sie da Erfolg, stünden ihr Mittel zu, die für ein Antreten bei der Bundestagswahl 2025 genutzt werden könnten.“
Tatsächlich hört man von denen, die eine Abspaltung herbeisehnen, dass sich eine Parteigründung erst im Laufe des nächsten Jahres anbieten würde. Im Herbst 2023 zum Beispiel. Dann wäre noch ausreichend Vorlauf für die Europawahl, bei der es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt.
Wer ginge mit Wagenknecht?
Das mag Zukunftsmusik sein, ganz aktuell aber stellt sich die Frage, wer denn die Bundestagsfraktion gemeinsam mit Wagenknecht verließe. Denn die Linke braucht mindestens 36 Abgeordnete, um eine Fraktion im jetzigen Bundestag zu bilden. Momentan besteht sie aus 39 Abgeordneten. Wenn vier Abgeordnete ausschieden, wäre der Fraktionsstatus verloren. Mitarbeitern müsste gekündigt werden, Rederecht und Gelder wären dahin. „Das wäre dann der Anfang vom Ende“, sagt Fraktionschef Dietmar Bartsch. Und fügt sofort hinzu: „Aber das wird nicht sein.“
Eine Spaltung in der Mitte sei „Quatsch“, meint Bartsch. Wenn überhaupt, käme es zu einer zahlenmäßig kleinen Abspaltung. „Kein Bürgermeister der Linken wird austreten und von den Ländern, in denen wir Regierungsverantwortung tragen, ist keines gefährdet“, zeigt er sich überzeugt.
Die Gefahr, dass es eine neue konkurrierende Partei geben könne, sieht allerdings auch Bartsch. Er mahnt denn auch zu Geschlossenheit und erinnert daran, dass es nicht so einfach sei, eine Partei zu gründen. „Ohne Sahra Wagenknecht kann es schiefgehen. Aber eine Wagenknecht-Partei geht gesichert schief.“
Bartsch kennt Wagenknecht schon sehr lange. 2017 waren sie zusammen Spitzenkandidaten der Linken und leiteten von 2015 bis 2019 gemeinsam die Fraktion. Noch immer haben sie ihre Büros im Bundestag nebeneinander.
„Ohne Sahra Wagenknecht kann es schiefgehen. Aber eine Wagenknecht-Partei geht gesichert schief“: Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch mahnt zu Geschlossenheit. Bild: dpa
„Progressive Linke“ gegen „Populäre Linke“
Wagenknecht ist keine, die sich einordnet und abseits des Rampenlichts Ausschuss-Arbeit macht. Sie polarisiert. Wenn man sie fragt, warum sie die Grünen auf ihrem Youtube-Kanal als „gefährlichste Partei“ bezeichnet oder im Bundestag davon spricht, dass Deutschland einen „Wirtschaftskrieg gegen Russland“ angefangen habe, antwortet sie: „Weil ich das so sehe. Dann muss ich das doch auch sagen.“
Diejenigen in der Fraktion, die hinter Wagenknecht stehen, sehen sich aus Partei und Fraktion gedrängt. „Die wollen uns rausschmeißen“, ist sich ein Abgeordneter sicher. „Die“, das sind Abgeordnete und Parteimitglieder, die der Meinung sind, dass Wagenknecht nicht mehr in die Linke gehört. An diesem Wochenende will sich diese Gruppe in Berlin treffen. Man nennt sich die „Progressive Linke“. Es mutet fast schon amüsant an, dass ein Aufruf der Wagenknecht-Gefolgsleute „Populäre Linke“ heißt und einige schon mal mit den Bezeichnungen durcheinanderkommen.
Lagerkampf um Köpfe und Kurs
Doch der Kampf zwischen den Pro-Wagenknecht-Leuten und dem Contra-Wagenknecht-Lager wird härter. Von Aufräumen ist die Rede, von Säuberungen sogar. Dass man längst nicht mehr miteinander rede und Konsequenzen erlebe, „wenn man nicht auf Kurs ist“. Und der Parteikurs ist dezidiert nicht das, was Wagenknecht denkt und sagt.
2022 scheint das Ende einer schwierigen Koexistenz der Lager innerhalb der Linken zu markieren. Die, die sich für Wagenknecht aussprechen, werfen den anderen vor, dass die den Kontakt zur Basis, zu den Leuten, die vielleicht Linke wählen würden, verloren hätten. „Die verwechseln doch ihre Twitter-Blase mit der Bevölkerung. In manchen Landkreisen gehen nicht einmal mehr die Hälfte der Menschen zur Wahl, das kann es doch nicht sein“, sagt einer, der sich eine Wagenknecht-Partei gut vorstellen könnte.
Parteiführung ist schmallippig
Die Parteiführung spricht nicht gern über das Thema. Man sei im Gespräch mit Wagenknecht, sagt Parteichef Martin Schirdewan schmallippig. Inhaltlich wolle er sich nicht dazu äußern.
Was Wagenknecht von Schirdewan hält, ist bekannt: „Eine Fehlbesetzung“ twitterte sie nach seiner Wahl im Juni zum Parteivorsitzenden. Er dagegen hält es für falsch, ihr Redezeit im Bundestag zu geben. Für ihn sprechen die Entscheidungen des Parteitages, für sie ihre große Popularität.
Sie weiß, wenn sie ginge, ginge sie nicht allein. Wer sich in der Fraktion umhört, erfährt, dass es bis zu zehn Abgeordnete sein könnten, die mit Wagenknecht gingen. Selbst wenn es nur die Hälfte ist, wäre das das sichere Ende der Fraktion.
Wagenknecht glaubt nicht daran, dass die Linke sich noch mal berappelt und Menschen begeistert. Sie spricht von einer politischen „Leerstelle.“ Sie will Nichtwähler mobilisieren und AfD-Wähler zurückgewinnen. Sie könnte auch noch drei Jahre im Bundestag sitzen, in Talkshows gehen und Bücher schreiben. Aber danach klingt sie nicht.