Wann startet die Ukraine die Gegenoffensive – und was will sie erreichen?

Wann startet die Ukraine die Gegenoffensive – und was will sie erreichen?

5. Mai 2023 Aus Von mvp-web
Ukrainische Soldaten gehen in einem Graben in der Nähe von Bachmut ab, einer Stadt in der Region Donezk im Osten der Ukraine, in der Kämpfe gegen russische Truppen stattfinden. Foto: Libkos/AP/dpa


Panzer und Schützenpanzer, Haubitzen, Raketenwerfer, Flugabwehr und Tonnen an Munition sind geliefert. Soldaten wurden ausgebildet und neue Militäreinheiten aufgebaut. Die Gegenoffensive der Ukraine ist lange angekündigt. Nach den Worten von Verteidigungsminister Olexij Resnikow sind die Vorbereitungen «in der Endphase».

Wann und wo die Rückeroberung russisch besetzter Gebiete genau startet, weiß nur ein kleiner Kreis des ukrainischen Führungsstabs. Aber die Anzeichen, dass es bald losgehen könnte, verdichten sich. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Wann geht’s los?

Das ist natürlich geheim und hängt von mehreren Faktoren ab. Da sind etwa die Logistik und das Wetter, Stichwort schlammigen Böden. Zudem spielt der Ausbildungsstand der ukrainischen Soldaten eine Rolle. Diese werden zu Tausenden an westlichen Waffensystemen trainiert.

Laut Verteidigungsminister Resnikow ist die Ausbildung noch nicht bei allen abgeschlossen. Und schließlich müssen Waffen und Truppen auch an die Front und in Stellung gebracht werden.

Auch die Russen rechnen mit einem baldigen Beginn der ukrainischen Gegenoffensive. Wagner-Chef Prigoschin sprach vom Beginn der Offensive bis zum 15. Mai. Nach seiner Ansicht sei die ukrainische Armee bereit und warte nur noch auf besseres Wetter, damit der weiche Boden sie nicht am Vorwärtskommen hindere. Zuletzt behauptete der Putin-Vertaute, die Offensive der Ukrainer habe bereits begonnen.

Hat die Offensive der Ukrainer längst begonnen?

Von voraus rollenden Panzern ist noch nichts zu sehen. Dennoch sprechen Experten davon, dass die Gegenoffensive eigentlich schon begonnen hat. Deutlichstes Indiz dafür: die Angriffe auf Objekte im Südwesten Russlands und der von Moskau besetzten Schwarzmeer-Halbinsel Krim.

Ziel der Angriffe sei die Zerstörung der Nachschublinien für die russischen Besatzungstruppen. Laut dem deutschen Militärökonomen Marcus Keupp hat damit die zweite Phase der Offensive nach der Aufklärung der Schwachstellen durch Satellitenbilder begonnen. Demnach sei ein Angriff auf die Stellungen der Russen als Abschluss der Offensive zu werten und nicht als deren Beginn, sagte Keupp im Deutschlandfunk.

Was wollen die Ukrainer erreichen?

Die Ukrainer betonen immer wieder, die russischen Besatzer vom gesamten Staatsgebiet vertreiben zu wollen. Laut dem Präsident Wolodymyr Selenskyj sei «die Hauptaufgabe die Befreiung unserer Gebiete, das Zurückholen unserer Erde und unserer Menschen aus russischer Gefangenschaft.» Dazu zählt Selenskyj auch die 2014 von Russland annektierte Krim.

Nach Darstellung des ukrainischen Militärs diente der Drohnenangriff auf die Schwarzmeer-Halbinsel Krim vom Samstag der Vorbereitung auf die geplante Gegenoffensive. «Die Unterwanderung der feindlichen Logistik ist eines der Vorbereitungselemente für die mächtigen Aktivhandlungen unserer Verteidigungskräfte, über die wir schon seit langem sprechen», sagte die Pressesprecherin des Südkommandos der ukrainischen Armee, Natalija Humenjuk. So wurden in der Region Brjansk Schienen gesprengt und zwei Güterzüge zum Entgleisen gebracht.

Wo wird die Offensive erwartet?

Experten vermuten, dass die Gegenoffensive der Ukrainer vor allem im Süden des Landes in Cherson und Saporischschja laufen wird. Nach Angaben britischer Geheimdienste hat Russland starke Verteidigungsanlagen an der Front, aber auch in besetzten ukrainischen Gebieten und teils tief im eigenen Land errichtet.

«Bilder zeigen, dass Russland besondere Anstrengungen unternommen hat, um die nördliche Grenze der besetzten Krim zu befestigen», teilte das britische Verteidigungsministerium mit.

Zudem seien Hunderte Kilometer Schützengräben auf russischem Territorium ausgehoben worden, darunter in den Gebieten Belgorod und Kursk. Beide Regionen grenzen an die Ukraine. «Die Abwehranlagen unterstreichen die tiefe Besorgnis der russischen Führung, dass die Ukraine einen großen Durchbruch erzielen könnte», hieß es.

Zudem bereiten sich die Russen auf Kämpfe um das Atomkraftwerk Saporischschja vor. Auf Satellitenbildern sei zu sehen, dass auf den Dächern der Reaktoren teilweise Verteidigungsstellungen mit Sandsäcken geschaffen wurden, teilte das Verteidigungsministerium in London mit.

Wie gut sind die Russen vorbereitet?

Um die Ausrüstung der russischen Truppen scheint es momentan nicht gut bestellt zu sein. Für Bachmut klagt Prigoschin offen über die schlechten Zustände. Wegen der fehlenden Artilleriemunition seien die Verluste der russischen Truppen fünfmal so hoch wie nötig, kritisierte der Chef der berüchtigten russischen Söldnertruppe Wagner in einem Interview. Nun hat Prigoschin sogar den Abzug seiner Truppen aus Bachmut angekündigt.

Auch nach Einschätzung britischer Geheimdienste verfügt Russland nicht über genügend Munition, um entscheidende Fortschritte zu erzielen. Moskau räume der Stärkung der Rüstungsindustrie zwar oberste Priorität ein, hieß es in einem Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums – die Branche werde dem hohen Kriegsbedarf jedoch weiterhin nicht gerecht.

Was ist, wenn die Gegenoffensive scheitert?

«Wir brauchen einen Erfolg», sagte Präsident Selenskyj skandinavischen Journalisten. Vom Erfolg der Gegenoffensive hängt für Kiew viel ab. Ob und wie viel Territorium die Ukraine zurückerobern kann, könnte auch darüber entscheiden, wie lange der Krieg noch dauert.

Zudem sind damit große Hoffnungen im Land verbunden. Jedoch warnt Verteidigungsminister Resnikow vor zu hohen Erwartungen. «Sie sind definitiv überhöht, alle möchten den nächsten Sieg», sagte der 56-Jährige in einem Interview der Nachrichtenagentur RBK-Ukrajina.

Auch der Westen erwartet Erfolge angesichts gelieferter Waffen und der von der Nato ausgebildeten ukrainischen Soldaten. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht die Ukraine in der Lage, «besetztes Territorium zurückzuerobern».

Der Westen hat der Ukraine laut Nato in den vergangenen Monaten 230 Panzer und mehr als 1550 gepanzerte Fahrzeuge für mehr als neun Panzerbrigaden geliefert. Sie bestehen jeweils aus mehreren Tausend ukrainischen Soldatinnen und Soldaten. Dies sei eine starke Position, so Stoltenberg.

Zwickmühle für die Ukrainer

Darin sehen Experten aber auch die Zwickmühle, in der sich die ukrainische Militärführung befindet. Denn was ist, wenn die Ukraine mit der Gegenoffensive keine großen Gebietsrückeroberungen erzielt? Was ist, wenn die Ukrainer die russischen Panzerriegel, die Gräben und Betonblöcke nicht überwinden können? Kippt dann die Stimmung in den Partnerländern zugunsten von Zugeständnissen an Russland?

Wie die durch ein Datenleck veröffentlichen Geheimpapiere zeigen, sind US-Geheimdienste skeptisch, ob die Frühjahrsoffensive der Ukraine große Erfolge bringen wird. Auch Nato-Chef Stoltenberg warnt davor, die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte zu unterschätzen. Sie versuchten, mangelnde Qualität durch Quantität auszugleichen. «Wir sehen, dass Russland weiter mehr Personal mobilisiert», sagte er. Bei den Kämpfen um die ukrainische Stadt Bachmut habe man zudem gesehen, dass Russland bereit sei, eine hohe Zahl an Toten und Verletzten in Kauf zu nehmen. dpa/gut