Ukrainische Angriffe auf der Krim „Für Russland ein komplettes Desaster“

Ukrainische Angriffe auf der Krim „Für Russland ein komplettes Desaster“

8. Oktober 2023 Aus Von mvp-web

Stand: 25.09.2023 19:41 Uhr

Die Angriffe auf der Krim sind verheerend für Russland, erklärt der Militärökonom Keupp im Interview. Die Russen hätten den Angriffen momentan nichts entgegenzusetzen, weil sie logistisch kaum nachkämen.

tagesschau.de: Wie gravierend waren aus Ihrer Sicht die jüngsten Angriffe auf das Marine-Hauptquartier in Sewastopol? Wie groß ist der Schaden für Russland?

Marcus Keupp: Das sind sehr schwere Schläge der Ukraine. Aus zwei Gründen: Zum einen demonstrieren sie, dass die russische Luftabwehr offenbar nicht in der Lage ist, westliche Marschflugkörper abzufangen. Auf der Krim stehen die modernsten Radare und Systeme zur Luftverteidigung, die Russland hat, beispielsweise das moderne Flugabwehrsystem vom Typ „S-400 Triumf“.

Die Ukraine hat außerdem nicht nur ein militärisches, sondern auch ein sehr symbolträchtiges Ziel getroffen, nämlich das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte, also das „heiligste“ militärische Gebäude auf der ganzen Krim.

Die Bilder, die uns erreichen, machen deutlich, dass wer auch immer da drin gelebt hat, jetzt wahrscheinlich nicht mehr lebt. Für Russland ist das ein komplettes Desaster.

Marcus Matthias Keupp
Zur Person

Marcus Keupp lehrt seit 2013 an der Militärakademie der ETH Zürich. Als Militärökonom beschäftigt er sich unter anderem mit Handel und Logistik im Krieg.

Die jüngsten Angriffe geben eine Idee, wo der Krieg hingeht. Es geht in diesem Krieg letztlich darum, den Russen klarzumachen, dass ihre militärische Position nicht zu halten ist. Somit sind sie ein Vorgeschmack, eine Demonstration der militärischen Fähigkeiten der Ukraine. Neben der psychologischen Bedeutung natürlich.

Sämtliche Luftangriffe, die auf die Ukraine geflogen werden, kommen von dort, von den Flugplätzen auf der Krim. Viele der Terrorangriffe gegen die Zivilbevölkerung, wie etwa das jüngste Bombardement in Cherson, werden logistisch über die Krim abgewickelt. Wenn sich diese Entwicklung in Bezug auf die Krim fortschreibt, dann wird der Krieg eine wesentliche Wende nehmen, spätestens im Frühjahr.

Sendungsbild | ARD-aktuell

Eine Zusammenfassung der aktuellen Ereignisse im Angriffskrieg gegen die Ukraine

Mathea Schülke, WDR, tagesschau, 23.09.2023 13:45 Uhr

Die Ukraine kommt im Süden voran

tagesschau.de: Inzwischen hat Russland wieder einzelne ukrainische Drohnenangriffe gemeldet, zum Beispiel auf die Region Belgorod. Welche Ziele verfolgt die Ukraine mit diesen punktuellen Angriffen?

Keupp: Die Ukraine versucht einerseits, die russischen Kräfte an anderen Frontabschnitten als an dem bei Robotyne zu binden. Dort hat die Ukraine momentan die Initiative und stößt weiter Richtung Süden durch.

Eigentlich müssten die Russen stärkere Verbände verlegen, um diese ukrainische Initiative aufzuhalten. Das können sie aber nicht, weil dann an anderen Frontabschnitten Löcher entstünden.

Außerdem führt die Ukraine andere Vorstöße durch. Zum Beispiel im Raum Novodonetske, im Raum Bachmut oder auch im Raum Kupjansk. Dazu immer wieder diese Angriffe auf den Raum Belgorod, um die russischen Kräfte zu binden. Alles, damit sie nicht zur Verstärkung in den Frontabschnitt nach Süden geschickt werden können.

Karte Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

„Wir sehen den Krieg in Zeitverzögerung“

tagesschau.de: Sprechen wir über die Offensive der Ukraine, die nun seit mehr als drei Monaten läuft. Wie kommt die Ukraine voran, was wissen wir verlässlich?

Keupp: Ja, wir sehen den Krieg mit Zeitverzögerung, aber wir wissen sehr genau, was vor Ort passiert. Zeitverzögerung, weil die Videos erst dann rauskommen, wenn die lokalen Kommandeure an der Front sie freigeben. Der Krieg ist schätzungsweise fünf bis sieben Tage weiter als das, was wir in den Medien sehen. Aber die Open-Source-Analysten sind sehr nahe an der tatsächlichen Frontlage dran.

Die Ukraine stößt im Moment in zwei Richtungen im Raum Robotyne vor. Das Ziel ist Tokmak, also die Artillerie so weit vorzuschieben, dass sie Tokmak kontrollieren können. Von dort könnte die russische Logistik an der gesamten Südfront unterbunden werden. Das könnte im Oktober eine große Rolle spielen. Wenn das gelingt, hätte die Ukraine de facto die russische Südfront gespalten.

tagesschau.de: Sie haben bereits im Frühjahr für den Herbst eine entscheidende Wende und gar ein Ende des Krieges prognostiziert. Bleiben sie dabei?

Keupp: Im März hatte ich gesagt, dass der Krieg im Oktober strategisch verloren sein wird für Russland. Damit war nicht gemeint, dass die Kampfhandlungen aufhören, sondern dass Russland in einer Lage ist, wo es logistisch nicht mehr leistungsfähig ist und vor der Wahl steht: entweder es zieht die Truppen zurück oder es wird langsam aufgerieben.

Rauch über dem Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte

25.09.2023

Russlands Munitionsmangel

tagesschau.de: Wie lange hält aus ihrer Sicht die Ukraine noch durch? Möglicherweise ziehen sich die Russen zurück, um zugleich einen Nachschub an Munition zu besorgen, zum Beispiel von den Nordkoreanern.

Keupp: Das Treffen und die Gespräche mit Kim ist meiner Ansicht nach ein gut getarntes Propagandamanöver. Sie müssen den Krieg von der logistischen Komponente betrachten. Bis Nordkorea Munition in einem Umfang geliefert hat, das den Russen wieder erlauben würde, in die Initiative zu gehen – bis dahin ist der Krieg vorbei.

Die Seite, die im Moment unter Munitionsmangel leidet, das sind die Russen. Der russischen Artillerie gehen im Moment sowohl die Granaten als auch die Geschützrohre aus.

Der Verschleiß ist hoch. Hinzu kommt, häufig postieren die Russen ihre Artillerie so nah an die Front, dass sie von ukrainischen Drohnen erkannt und dann von der ukrainische Artillerie vernichtet wird.

Die Ukraine pfeift nicht aus dem letzten Loch, wie viele behaupten. Die Ukraine hat nach wie vor die Initiative und Russland ist nicht in der Lage, ihren Vorstoß zu stoppen. Dieser Krieg ist ein Abnutzungskrieg, der über die Logistik funktioniert, es geht nicht primär um Geländegewinne.

Blick auf die Krim-Brücke

14.09.2023

Krim als militärisches Kraftzentrum

tagesschau.de: Nochmal zurück zur Krim. Vor ein paar Monaten hätten es viele für unmöglich gehalten, dass die von Russland besetzte Krim überhaupt angegriffen wird. Sie erwähnten bereits, Russland müsse klar werden, dass die Krim unhaltbar ist, so dass es sich aus eigenen Stücken zurückzieht. Wie kann so was funktionieren?

Keupp: Die Krim ist ukrainisches Staatsgebiet. Sie ist seit 2014 völkerrechtswidrig besetzt von Russland. Und die Russen haben diesen Zeitraum benutzt, um die Krim zu einer militärischen Festung auszubauen. Sie haben Flugplätze angelegt, vor allem für Kampfhubschrauber, auch für Kampfflugzeuge und massive Luftabwehrsysteme dorthin gebracht.

Die Krim ist nicht nur das logistische Zentrum, sie ist auch das militärische Kraftzentrum der ganzen russischen Operation, und deswegen wird sie auch das große Finale des Krieges sein und möglicherweise schneller, als so mancher das erwartet hat.tagesschau.de: Wie meinen Sie das?

Keupp: Wenn es der Ukraine beispielsweise gelingt, Brücken oder die Eisenbahnverbindungen dauerhaft zu zerstören, ist es für Russland nicht mehr möglich, die Krim in dieser Form als militärische Drehscheibe zu nutzen, zumindest nicht für die Landarmee.

In Bezug auf die Flugplätze kämen dann die jüngst von den USA in Aussicht gestellten ATACMS-Marschflugkörper ins Spiel, mit denen solche Anlagen großflächig getroffen werden können.

Wenn es also der Ukraine gelingt, die Land- und Luftkampfmittel festzusetzen, dann ist die Krim logistisch isoliert. Ab diesem Zeitpunkt ist Russland eigentlich nicht mehr in der Lage, den Krieg weiterzuführen.

Blick auf die Krim-Brücke von der auf der Krim gelegenen Stadt Kertsch aus

17.07.2023

Weiter Leid der Zivilbevölkerung

tagesschau.de: Die kalte Jahreszeit steht an. Müssen die Menschen, die Zivilisten in der Ukraine mit Blick auf den Winter mit einem ähnlichen Ausmaß von Angriffen auf die Energieinfrastruktur rechnen wie im vergangenen Jahr?

Keupp: Im vergangenen Winter versuchte Russland systematisch, das ukrainische Energienetz und Stromnetz zu zerstören – was nicht gelang und in diesem Jahr schon gar nicht gelingen wird. Die Ukraine konnte nicht nur ihr Netz reparieren, sondern auch die Luftverteidigung ist sehr viel besser geworden. Wichtige Knotenpunkte im Stromnetz sind mittlerweile von der Luftverteidigung erfasst.

Aber natürlich können sie nicht das gesamte Land und jedes einzelne Wohngebäude schützen. Deswegen werden diese Terrorangriffe gegen die Zivilbevölkerung höchstwahrscheinlich weitergehen.

Doch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zählt mit. Die Liste der Kriegsverbrechen wird immer länger. Die Schuld ist ungeheuerlich und jeder, der im Westen sich prorussisch äußert, macht sich an diesen Kriegsverbrechen mitschuldig.

Das Gespräch führte Katja Keppner, tagesschau.de

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.