Theaterneubau in Rostock: Vorhang auf zum nächsten Akt?
15. November 20231942 wurde das Rostocker Stadttheater am Steintor durch britische Bomben zerstört. Schon seit Jahrzehnten ist klar: Rostock braucht einen Neubau. Die Rostocker Bürgerschaft will sich heute ein weiteres Mal mit dem Projekt beschäftigen.
Intendant Ralph Reichel erwartet einen wegweisenden Beschluss der Bürgerschaft. Er rechnet fest mit einem Start der Arbeiten für den geplanten Theater-Neubau im kommenden Jahr. Es habe in der Vergangenheit mit allen beteiligten Ämtern Vorabstimmungen gegeben, und der Bauantrag für den Theaterneubau sei gestellt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Stadt auf einen kulturellen Leuchtturm verzichten möchte“, sagte Reichel der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf die heutige Bürgerschaftssitzung. Dort liegen mehrere Anträge zum Projekt vor, dem die Bürgerschaft aber in der Vergangenheit bereits grundsätzlich zugestimmt hatte.
CDU will Bürgerentscheid
Die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen, Linkspartei und Rostocker Bund stellen am Mittwoch einen Antrag zur Abstimmung, mit dem der Grundsatzbeschluss zum Theaterneubau erneuert werden soll. Auch die SPD schloss sich dem Anliegen an. Die CDU will dagegen mit Blick auf die Kosten für das Projekt einen Bürgerentscheid herbeiführen und dazu den Termin für die Europawahl am 9. Juni 2024 nutzen.
Reichel warnte, eine Entscheidung gegen den Neubau wäre auch eine Entscheidung gegen das Volkstheater, das in jetziger Form nicht mehr lange bestehen könne, da das alte Haus in desolatem Zustand sei. „Es ist ein realistisches Szenario, dass das jetzige Haus aus Sicherheitsgründen bald geschlossen werden muss.“ Es seien bereits zwölf Millionen Euro für Planungen ausgegeben worden. Der Neubau in der Innenstadt soll nach aktuellen Zahlen rund 208 Millionen Euro kosten. 51 Millionen Euro sagte das Land zu.
Johanna Schall: „Würde nackt auf Doberaner Platz Polka tanzen“
Wenn es so käme, könnte der Tag der Eröffnungs-Premiere am Bussebart im Sommer 2028 für Furore sorgen. Großer Bahnhof und Medienrummel im neuen Großen Haus. Mit einer Gala für alle, die schon immer für das Theater waren. Am Doberaner Platz aber könnte, zunächst unbeachtet, eine ältere Dame auf und ab gehen, um schließlich ein fast verjährtes Versprechen einzulösen und einen Theaterskandal der besonderen Art auszulösen.
Bei der Dame handelte es sich dann um die 2028 knapp 70-jährige Johanna Schall – Schauspielerin und Regisseurin, Ex-Schauspieldirektorin in Rostock und Enkelin von Bertolt Brecht und Helene Weigel, Tochter von Ekkehard Schall, dem Brecht-Darsteller schlechthin. Das Versprechen der Schall wäre dann 22 Jahre alt. Gegeben in der Fernsehöffentlichkeit beim zwischenzeitlich abgeschalteten ZDF-Theaterkanal. Im Interview mit Esther Schweins sagte sie 2006: „An dem Tag, an dem Rostock ein neues Theater bekommt, bin ich bereit, rot angemalt und nackt auf dem Doberaner Platz Polka zu tanzen. Das wäre zwar sehr peinlich. Aber ich wäre sehr glücklich, wenn ich die Wette verlieren würde.“ Und sie fügte noch an: „Ich glaube nicht dran.“
Kleckern oder doch klotzen?
Dass die Stadt nun entgegen aller Unkerei doch dabei ist, die Kleckerei zu lassen und wirklich mal zu klotzen, wird für die Skeptiker, die stets meinten, dass der immer wieder aufs Neue geerdete Neubau Zeichen für das notwendige Scheitern großer Ideen in Rostock sei, ganz sicher verwundern. Und dennoch, noch nie zuvor war die Stadt so nahe dran, an einem neuen Volkstheater – wenn da nicht über dem „großen Ereignis“ der Schatten eines Bürgerentscheids ziehen würde.
Traum und Alptraum
Wie viel einfacher war alles noch im 19. Jahrhundert! Im Januar 1894 wurde der Architekt Heinrich Seeling mit der Planung und Bauleitung für ein neues Stadttheater in Rostock beauftragt. Im Frühling desselben Jahres gab es den Baustart und gerade mal 15 Monate später war das repräsentative Stadttheater am Steintor fertig. Eingeweiht wurde es mit einer Festvorstellung für die Bürgerschaft am 5. Oktober 1895. Im Zuschauerraum gab es zu Beginn 949 Plätze, vor dem Haus eine Auffahrt mit Springbrunnen, Rasenplätzen und Blumenbeeten. Die Kosten betrugen damals 600.000 Mark. Das entspräche heute in etwa 4,6 Millionen Euro. Der überwiegende Teil der Baukosten wurde durch Spenden der Rostocker finanziert. In der Nacht vom 24. zum 25. April 1942 wurde das Stadttheater bei Fliegerangriffen zerstört und brannte aus. Die Ruinen wurden im August 1948 gesprengt.
Ein Provisorium für die Ewigkeit?
Die Tanzgaststätte in der „Philharmonie“ an der Doberaner Straße stammt aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Es war die Heimstatt der Gewerkschaften bis 1933, dann wurde das Gebäude von der Deutschen Arbeitsfront übernommen und noch im Jahr der Zerstörung zum Theater umgebaut. Mit der Operette „Der Vetter aus Dingsda“ war 1944 aber schon wieder Schluss mit lustig. Theater geschlossen. Bis zum Kriegsende konnten noch Filme gezeigt werden, dann wurde das Gestühl ausgebaut und Platz für Flüchtlinge und Vertriebene geschaffen. Erst im August 1945 wurde das Theater Rostock wieder eröffnet. Und bis Mitte der 70er-Jahre blieb alles beim Alten in der damaligen Hauptspielstätte für knapp 800 Besucher.
Zur Kunst in den Keller
Es war Zeit für den ersten wirklichen Umbau. Ein Bühnenturm wurde gebaut, das Theatercafé aufgesetzt, neue Zugänge geschaffen, Probebühnen und Foyers eingerichtet. Im Großen Saal war nur noch Platz für 600 Zuschauer. Weil die Doberaner Straße sieben Meter über dem Saal auf Höhe des Patriotischen Weges lag, wurde die legendäre „U-Bahn-Treppe“ gebaut. Zur Kunst musste man in Rostock in den Keller, hieß es damals. Dort, so berichten die Urgesteine des Rostocker Theaterlebens, soll es auch heute noch nach den Zigaretten des legendären Intendanten Hanns Anselm Perten riechen. Witzbolde hatten nach der Wende dort auch sein riesiges Porträt in Öl aufgehängt. Auch eine Form von Traditionspflege.
Die Partei will ein neues Theater – oder lieber doch nicht?
Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht. aus: „Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ (Bertolt Brecht)
Der allererste Plan ist manchmal der Beste. Das könnte man heute rückblickend sagen. Denn 1957 bereits kam der Architekt Joachim Näther in seiner Diplomarbeit auf die Idee, das neue Große Haus am Bussebart mit Blick auf den Stadthafen zu bauen. Und was der angehende Architekt sich ausgedacht hatte, wurde in den kommenden fünf Jahren tatsächlich zur Ausführungsreife gebracht. Bis dann der Sozialistische Realismus der Utopie den Garaus machte. Die Baukosten damals: 20 Millionen Mark. Geld, das die Partei nicht rausrücken wollte. Der Hafen war wichtiger. Eine erste Pleite. Und weitere folgen. Am selben Standort wurde zwei Jahre später für die Hälfte geplant. Aber auch daraus wurde nichts. Es folgte 1970 eine weitere Idee für ein Theater am Wallgraben. Und auch dieses Projekt für insgesamt 1.400 Besucher war schon weit gediehen, bis es schließlich wieder kassiert wurde, weil wieder einmal Anderes Vorrang hatte.
Neues Geld und immer noch kein neues Theater
Geplant wurde auch nach der Wende fleißig weiter: noch einmal für den Bussebart, dann auf der alten Neptunwerft, ebenso an der Fischerbastion, nicht zu vergessen im Rosengarten, am Schröderplatz auch und dann wie 1957 wieder am Bussebart. Einen Überblick der verschiedenen Neubau-Ideen hat der Theaterförderverein Rostock hier zusammengestellt. Was in 30 Jahren DDR-Planwirtschaft nicht klappte, das schafften die Stadtväter und -mütter auch nach 1989 nicht. Seit 1992 gibt es einen Beschluss der Bürgerschaft für einen Theaterneubau. Doch erst heute könnte man sagen, dass der Plan so weit gediehen ist, dass auf den Beschlüssen von vor 30 Jahren auch ein Fundament gegossen werden kann. Wenn da nicht die Sache mit dem lieben Geld wäre. Nach aktuellem Stand könnten es weit mehr als 200 Millionen Euro werden.
Wir haben fertig!
Sigrid Hecht, als Betriebsleiterin der Kommunalen Objektbewirtschaftung und -entwicklung (KOE) auch städtische Theaterneubau-Chefin, neigt von Berufswegen nicht zum Überschwang. Die letzte Analyse zum Stand der Planungen fällt demnach nüchtern aus. Schon seit zwei Jahren wird konkret geplant. Am Werk: das Architekturbüro Hascher Jehle mit Sitz in Berlin und Stuttgart, die auch den Realisierungswettbewerb gewonnen hatten. Seitdem steigen die Kosten. Vermeintlich. Denn aus Schätzgrößen, mit denen bisher geplant wurde, werden im Zuge der Umsetzung in der Tiefe reale Zahlen, erklärt Hecht. Immer noch mit Plus/Minus 20 Prozent. Aber eben nicht mehr auf dem Niveau von rund 108 Millionen Euro, die ursprünglich mal kalkuliert wurden. Heute wird mit 208 Millionen Euro für das Theater gerechnet. Ob das dann reicht, das weiß auch Sigrid Hecht noch nicht zu sagen. Was sie aber weiß, und nicht müde wird zu sagen: Noch nie in den zurückliegenden mehr als 60 Jahren war Rostock so nahe dran. Mal ganz abgesehen von den 16 Millionen Euro, die schon in der Planung stecken. Hecht ist überzeugt: 2025 kann begonnen werden mit dem Bau. Fertig will sie 2028 sein. Im Spätsommer dann, so der Plan, die Eröffnung der Spielzeit im neuen Volkstheater am Bussebart. Was die Bauchefin auch immer wieder sagt: „Redet nicht immer nur darüber, was es kostet. Sprecht auch darüber, was das Theater uns bringt in der Stadt.“
Theater als Wahlkampfthema?
Bei zurückliegenden Wahlen war nicht selten der geplante Theaterneubau eines der Themen, an denen sich die Geister schieden. Die einen forderten den Bau als „Potenzmittel“ für die Entwicklung des Gemeinwohls, den anderen war alles zu teuer und das „Theatergeld“ Garant dafür, dass die Hausaufgaben bei Straßen, Schulen und Sicherheit nicht erledigt werden können und die Stadtkasse wieder in die Miesen gerät – auch in Erinnerung an die IGA 2003. Im Sommer 2024 wird die Bürgerschaft der Hanse- und Universitätsstadt neu gewählt. Mit möglichen Kosten in Höhe von fast einer Viertel Milliarde Euro für ein Theater lässt sich Politik machen.
Nach Golde drängt, am Golde hängt, doch alles. Ach wir Armen! aus: „Faust. Ein Fragment“ (Johann Wolfgang von Goethe)
Aus Sicht der CDU in Stadt und Land muss nun ein Bürgerentscheid her in Sachen Volkstheater-Neubau. Das bestätigt Daniel Peters, der Generalsekretär der Partei im Land. Neues Theater: ja oder nein? Das ist hier die Frage. Doch auch den Christdemokraten ist klar, dass die Causa Volkstheater hochkomplex ist. Zur Begründung heißt es in einer Stellungnahme: „Die gegenwärtige Beschlusslage der Rostocker Bürgerschaft erlaubt nach einer Grundsatzentscheidung lediglich 110 Millionen Euro. Auf dieser Beschlusslage kann und muss sehr wohl eine Planungsveränderung erfolgen, denn wir können die jetzigen Planungen ja nicht nach dem Motto fortführen: koste es, was es wolle. Wenn diese Planungsveränderung auch eine Strukturreform des Theaters bedeutet, dann muss diese Debatte offen geführt werden. Über einen verbindlichen Kostendeckel für einen Neubau sollte die Rostocker Bevölkerung im Rahmen eines Bürgerentscheids entscheiden.“ Zu erwarten ist, dass auch die FDP der Forderung folgt, denn auch den zwei liberalen Mitgliedern in der Bürgerschaft ist das zu viel Geld für das neue Theater.
„Vorwärts immer, rückwärts nimmer“
„Wenn wir jetzt den Neubau absagen, dann machen wir uns lächerlich, in der Stadt, im Land und der ganzen Republik“, sagt Oberbürgermeisterin Eva-Maria Kröger. Dieser Jahrhundertbau, wie sie ihn nennt, sei nach so langer Zeit des Stillstands einfach alternativlos. Dass er teuer ist und noch teurer werden könnte, stellt sie nicht in Abrede. Dennoch sei sie überzeugt, dass sich die Stadt das leisten kann. Auch ohne das anderes liegen bleiben muss, erklärt sie. Käme es anders, so Kröger, so stünde das Theater insgesamt auf dem Spiel. Denn: Das Große Haus in der Doberaner Straße mache es nicht mehr lange. Und jede Neuplanung würde dazu führen, dass die Kosten weiter steigen und eine Fertigstellung Aufgabe einer kommenden Generation würde.
Ob ein Bürgerentscheid rechtlich überhaupt machbar sei, zieht sie in Zweifel. Auch wenn eine entsprechende Prüfung noch aussteht. Abgesehen davon aber meint sie, dass ein solcher Entscheid nicht das probate Mittel sei. Wenn die CDU meine, ein neues Theater zu diesem Preis sei nicht mehr zeitgemäß, dann solle sie einen Antrag in der Bürgerschaft einbringen. Und das mit dem Auftrag an die Oberbürgermeisterin, die Planungen zu stoppen und beispielsweise ein kleineres Haus zu planen. Ein solcher Antrag sei aber bisher nicht eingegangen, sagt Kröger.
Theaterintendant Ralph Reichel: Neubau günstiger als Sanierung
Seit 80 Jahren müssen Besucher und Mitarbeiter mit dem Provisorium in der Doberaner Straße, einer früheren Vereinsgaststätte, auskommen. Das aktuelle Haus ist marode, eine Sanierung hier würde um ein Vielfaches teurer als ein Neubau, sagt Theaterintendant Ralph Reichel. Für ihn wäre ein Planungsstopp beim Neubau und ein alles auf Anfang gleichbedeutend mit der Abwicklung des Theaters überhaupt in Rostock. Wer das betreibe, der mache sich zum Totengräber.
Die Theaterfrau Johanna Schall sagte vor 17 Jahren im Interview mit dem ZDF-Theaterkanal auch noch: „Mir ist bisher noch keine Stadt untergekommen, wo die Grundhaltung der politischen Gruppen von einem derartigen Desinteresse, zu Teilen sogar Feindseligkeit, gegenüber dem Theater geprägt war wie in Rostock“. Sollte sie Recht behalten, dann muss sie nicht tanzen auf dem Doberaner Platz in Rostock.