„interview“ Holocaust-Überlebende Friedländer „So hat es ja damals auch angefangen“

„interview“ Holocaust-Überlebende Friedländer „So hat es ja damals auch angefangen“

26. Januar 2024 Aus Von mvp-web

Stand: 26.01.2024 21:46 Uhr

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer hat sich im tagesthemen-Interview tief bestürzt über den zunehmenden Antisemitismus geäußert. Sie sei dankbar für die Proteste gegen rechts – doch noch viel mehr Menschen sollten laut ihre Meinung sagen.

tagesthemen: Frau Friedländer, Sie waren zwölf Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen. Und jetzt sind Sie 102 Jahre alt und müssen miterleben, wie Antisemitismus wieder zunimmt in Deutschland, wie einige sogar darüber reden, deutsche Staatsbürger ausweisen zu wollen. Was empfinden Sie heute in Deutschland?

Margot Friedländer: Ja, es macht mich sehr, sehr traurig, die ganze Geschichte. Ich hätte nie gedacht, dass es wieder so kommen würde. Denn so hat es ja damals auch angefangen. Wir sind die, die das erlebt haben. Es sind ja jetzt auch einige noch am Leben. Für uns ist es besonders schwer zu verstehen. Und sehr traurig.

Sendungsbild | ARD-aktuell

„Finde, dass mehr laut sein sollten“, Margot Friedländer zu Protesten gegen Rechtsextremismus und jüdischem Leben in Deutschland

tagesthemen, 26.01.2024 21:45 Uhr

tagesthemen: Vor einigen Jahren, gar nicht so lange her, sind viele Jüdinnen und Juden, vor allem junge, wieder zurück nach Berlin gekommen oder sind nach Berlin gezogen. Sie haben gesagt: Hier soll meine Zukunft oder die neue Heimat sein. Seit dem 7. Oktober ist es aber für viele anders. Viele fühlen sich nicht mehr sicher. Was raten Sie denen?

Friedländer: Ich bin nicht dieser Meinung. Ich bin weiterhin der Meinung, dass es nicht nur in Deutschland so ist, in der ganzen Welt gibt es das. Denn wir müssen doch sehen, was passiert: Es brennt überall. Antisemitismus gab es doch immer. Das ist doch nichts Neues.

„Seid Menschen“

tagesthemen: Aber der Antisemitismus nimmt wieder zu. Das heißt, es ist für Jüdinnen und Juden überall auf der Welt unsicherer.

Friedländer: Ihr braucht zu viele Worte dafür – braucht weniger Worte. Meine Mission ist: Ich sage, seid Menschen. Wir sind alle gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Alles ist gleich. Wenn ihr Menschen seid, dann werdet ihr wissen, dass ein Mensch so was nicht machen würde.

tagesthemen: Gibt es einen Antisemitismus, der Ihnen besondere Sorge macht? Es wird gerade viel über Rechtsextremismus geredet, aber auch über Antisemitismus von Menschen mit arabischem Hintergrund, muslimischem Hintergrund von links.

Friedländer: Kommen Sie, ich kann Ihnen nicht so viel über Antisemitismus sagen. Das ist eigentlich nicht meine Mission. Weil ich nicht verstehen kann, dass man nicht akzeptiert, dass wir Menschen sind. Und dass es perfekt in Ordnung ist, dass wir jüdisch oder muslimisch sind, aber menschlich sind (…) Denn in jeder Religion soll man doch Mensch sein.

„Zu wenige sagen ihre Meinung“

tagesthemen: Wir haben in den vergangenen Wochen vor allem eine Reihe von Demonstrationen gesehen. Da waren Zehntausende, sogar 100.000 Menschen überall in Deutschland auf den Straßen gegen Rechtsextremismus. Einige Zeit vorher, zum Beispiel gegen Antisemitismus, waren es deutlich weniger. Wie empfinden Sie das, wie die Deutschen gerade mit der ganzen Situation umgehen?

Friedländer: Ich bin dankbar für die, die auf die Straße gegangen sind. Aber es werden immer die sein, die sowieso für uns sind. Ich finde, dass mehr laut sein sollten, dass zu wenige ihre Meinung sagen. Warum sind sie so zurückhaltend? Ist es doch für euch.

tagesthemen: Der 27. Januar ist ja der Holocaustgedenktag. Was bedeutet der Ihnen in Deutschland?

Friedländer: Wir waren doch am 27. Januar in Theresienstadt. Wir haben es ja nicht gewusst (…) Ich habe immer gedacht, nachdem ich einen Monat dort war, vielleicht sind meine Mutter und mein Bruder auch in so etwas. Wir wussten doch nichts. Es hieß doch immer der Osten. Also Theresienstadt war dann für mich der Osten. Erst als eine Woche vor der Befreiung ein Zug nach Theresienstadt gekommen ist und die Waggons aufgebaut wurden und die Menschen rausgefallen sind – da haben wir doch erst erfahren von dem Osten.

tagesthemen: Was also in Auschwitz passiert ist.

Friedländer: Das war das erste Mal, dass ich es gehört habe. Und das war der Moment, der mir gesagt hat: Was immer es ist, ich finde meine Mutter nicht, meinen Bruder nicht. Jetzt weiß ich, was es ist.

„Lange gebraucht, um wieder Mensch zu werden“

tagesthemen: Wie haben Sie im KZ die Zeit durchgehalten? Hat man irgendwie an diesen Tag der Befreiung gedacht? Gab es irgendeine Hoffnung?

Friedländer: Man hat getan, was man von uns verlangt hat. Ich habe gearbeitet. Ich kann nur sagen, dass wir jeden Tag genommen haben, wie er gekommen ist. Für uns. Für mich war es am schwersten, die alten Menschen zu sehen, die wirklich keine Möglichkeit hatten, zu lieben, die so vegetierten. Die sind gestorben.

tagesthemen: Sie waren damals Anfang 20. Sie haben gesagt, in der Zeit im KZ wurde Ihnen und den anderen Menschen die Identität genommen.

Friedländer: Ja. Man ist ja kein Mensch. Wenn man eine Nummer ist, ist man eine Nummer. Wir haben ja keinen Namen gehabt. Wir haben lange gebraucht, um wieder Mensch zu werden. Ein Mensch, der eine Meinung hat. Der was zu sagen hat, der gefragt wird. Wir wurden nicht gefragt. Wir hatten keine Meinung.

tagesthemen: Heutzutage gibt es das Gedenken und die Erinnerung an den Holocaust. Sind Sie zufrieden damit, wie die Deutschen mit der Erinnerung und dem Gedenken umgehen?

Friedländer: Nein. Sie wissen zu wenig.

„Macht das Beste, was ihr könnt“

tagesthemen: Sie sagen den jungen Menschen auch, dass sie zukünftig die Zeitzeugen sein sollen.

Friedländer: Absolut, absolut. Und wir haben auch Zeitzeugen, die in Schulen gehen, wo die Schüler mir Danksagungen schicken und sagen: „Wir haben gehört, was Sie erlebt haben. Es tut uns so leid, Frau Friedländer.“

tagesthemen: Das Leben, das Sie als junge Frau in Berlin hatten – ob das nun Mode war, Schauspiel, Musik, Sport – dieses Leben wurde Ihnen von den Deutschen damals genommen. Sie konnten diese Jugend und das Leben nicht so zu Ende führen. Was sagen Sie heute der jungen deutschen Generation? Egal ob Juden oder Nichtjuden? Was wünschen Sie ihnen und was hoffen Sie von der neuen Generation?

Friedländer: Seid dankbar. Nehmt das Beste und macht das Beste, was ihr könnt. Guckt nicht nach den Sternen. Bleibt auf der Erde.

tagesthemen: Danke, Frau Friedländer.

Das Interview führte Helge Fuhst. Für die schriftliche Fassung wurde es gekürzt und redigiert.