1999: Der rätselhafte Untergang der „Beluga“ in der Ostsee
18. März 2024Heute vor 25 Jahren sank der Sassnitzer Fischkutter „Beluga“ in der Ostsee. Drei Seeleute starben. Noch immer ist die Ursache unklar, viele Fragen sind offen. Die Hinterbliebenen haben Zweifel an offiziellen Erklärungsversuchen.
In der Nacht vom 17. zum 18. März 1999 ist die Ostsee ruhig. Es herrschen klare Sicht und nur ein schwacher Seegang. Eine einfache Fahrt also für den Fischkutter „Beluga“ und seine Besatzung. Etwa um 23.30 Uhr hat das blau gestrichene Boot aus Stahl den Hafen von Sassnitz verlassen und Kurs auf die Insel Bornholm genommen. Kapitän Frank Schneider hat im Ruderhaus alles im Blick, sein Maschinist Hartmut Gleixner und der Lehrling Martin Senfft ruhen schon in ihren Kojen.
Das Unglück muss rasend schnell passiert sein
Eine unaufgeregte Überfahrt – und trotzdem geschieht das Unglück. Gegen 3 Uhr in der Nacht muss es gewesen sein, als die „Beluga“ urplötzlich sinkt. Steil, mit dem Heck voran. Rasend schnell muss alles passiert sein, innerhalb von 60 bis 90 Sekunden. Als man die Leichen der Männer später aus der See bergen kann, hat nicht einer von ihnen Rettungskleidung an. Und das obwohl die Überlebensanzüge an Bord des Kutters nur drei bis vier Schritte von der Schlafkammer entfernt bereit gelegen haben. Den drei Seeleuten muss einfach das Bisschen an Zeit gefehlt haben, um sich zu retten. Sie sind dem Unglück schutzlos ausgeliefert.
Auffällige Schleifspuren an Deck festgestellt
Am Haken eines großen Schwimmkrans hängend wird der Fischkutter Tage danach in den Sassnitzer Hafen gebracht. Überall stehen Schaulustige. Die drei Männer der Besatzung sind nicht nur unter den Fischern bekannt. Kapitän Frank Schneider genießt den besten Ruf, bekannt für sein Drängen auf Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften. Sämtliche Technik an Bord funktioniert bei ihm stets einwandfrei. Was könnte da draußen auf dem Kutter passiert sein? Die „Beluga“ am Kranhaken sieht eigentlich aus wie immer. Vor allem wirkt sie nahezu unbeschädigt. Aber wer genauer hinschaut, kann an Deck merkwürdige Schleifspuren erkennen: am Handlauf der Reling, vor allem aber am Schornstein und am Bordkran. Alles deutet auf Spuren einer äußeren Krafteinwirkung hin. Womöglich durch ein Seil aus Stahl?
Die Fischer sollen selbst schuld gewesen sein
Mit Spannung werden die Ergebnisse der offiziellen Unfalluntersuchung erwartet. Doch der die Ermittlungen abschließende Spruch des Seeamtes Rostock Ende Oktober 1999 und später des Bundesoberseeamtes Hamburg geben den Fischern selbst die Schuld am Unglück: Der Unfall sei mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass Wasser über die beiden geöffneten achteren Bodenspeigatten eindrang und von dort bis in den Maschinenraum einlief. Dies habe zum Verlust der Reststabilität geführt, so die Einschätzung.
Mit anderen Worten: Die Fischer seien schlicht und einfach zu unachtsam gewesen und hätten nicht gemerkt, wie von Seemeile zu Seemeile immer mehr Seewasser durch zwei kleine runde Öffnungen außen – die sogenannten Bodenspeigatten – in den Kutter eingedrungen ist, bis er schließlich sinkt. Die „Beluga“ – ein Fischkutter in miserablem technischem Zustand? Nicht nur die Hinterbliebenen-Familien, sondern auch viele Fischer von Rügen können über diesen Spruch nur den Kopf schütteln. Vollkommen fernab jeder Realität sei das.
Der NDR auf Spurensuche
Auch für die beiden NDR Journalisten Michael Schmidt (inzwischen in Rente) und Lutz Riemann (inzwischen verstorben) sind mit dem tragischen Unfall auf See viele ungeklärte Fragen verbunden. Sie befragen Experten für Schiffssicherheit, Kriminaltechniker, deutsche und dänische Fischer. Übereinstimmende Meinung: Die „Beluga“ kann nur durch eine Fremdeinwirkung von außen gesunken sein. Immer wieder gibt es Spekulationen und Vermutungen, dass es einen Zusammenhang zum NATO-Manöver „Jaguar“ geben könnte. Denn die groß angelegte internationale Marineübung findet damals zur selben Zeit im selben Seegebiet statt.
Ist die „Beluga“ ein Manöver-Kollateralschaden?
Fischer, die in der Zeit im Seegebiet zwischen Rügen und Bornholm unterwegs sind, bestätigen zudem, dass offiziell angekündigte Manöverzeiten nicht eingehalten worden seien. Es sei länger und öfter geschossen worden als mitgeteilt, es seien auch mehr Marineschiffe unterwegs gewesen. Könnte es also sein, dass die „Beluga“ in einen militärischen Schleppverband hineingeraten war? Ein sogenannter Kollateralschaden? Sowohl von der Marine als auch von der Staatsanwaltschaft wird das immer energisch bestritten. Auffällig ist jedoch bis heute, dass eventuelle Radaraufzeichnungen zum NATO-Manöver nicht mehr vorhanden oder gar gelöscht sein sollen. Nicht einmal die Anwälte der Hinterbliebenen der toten Fischer können etwas ausrichten.
Unaufgeklärte Widersprüche
Kurz nach dem Unglück steigen Polizeitaucher zur gekenterten „Beluga“ hinab. Ein Beamter berichtet danach – die Bilder liegen auch dem NDR vor – dass der Bordkran des Kutters nicht in Ruhestellung gewesen sei. Es müsse demzufolge irgendeine Kraft auf dieses Gerät eingewirkt haben. Diese Beobachtung gibt der Beamte auch der Staatsanwaltschaft zu Protokoll. Als dann im Jahr darauf derselbe Beamte vom Bundesoberseeamt Hamburg befragt wird, berichtet er, dass der Kran unter Wasser sich fest in Ruhestellung befunden habe. Welche Aussage stimmt: die gegenüber der Staatsanwaltschaft oder die gegenüber dem Bundesoberseeamt? Einmal muss der Beamte die Unwahrheit gesagt haben. Warum? Und warum hat der Richter am Bundesoberseeamt nicht versucht, das aufzuklären?
Die „Beluga“ – bis heute nicht vergessen
Alljährlich wird der Verstorbenen auf See gedacht. Die Familien der drei toten Fischer wollen sich noch immer nicht mit den offiziellen Erklärungsversuchen zu den Unglücksursachen abfinden. Ihre Zweifel bleiben. Journalisten recherchieren auch weiter zu dem Fall – bis heute.
Unter der Nummer 0182/2019 nimmt sich der Petitionsausschuss des Europaparlaments 2019 der Sache an. Die Witwe des Kapitäns, Beate Schneider, hat in Brüssel eine entsprechende Petition eingereicht. Doch der Ausschuss sieht sich als nicht zuständig an. Mit dem Fall befasst sich hingegen der Petitionsausschuss des Bundestags. Das Verfahren wird 2022 abgeschlossen, „weil es dem Ausschuss trotz größter Bemühungen nicht möglich war, sich Klarheit über die Umstände des tragischen Todes Ihres Ehemanns und seiner Besatzung zu verschaffen“, heißt es in einem Schreiben an Beate Schneider.
Die „Beluga“ wird bereits im Jahr 2000 verkauft. Der neue Eigner stellt fest, dass mehrere Tanks voll mit Wasser sind. Er lässt das Schiff in der Wolgaster Horst-Werft umbauen. Seitdem ist es unter dem Namen „Leone“ vor der Küste Norwegens für Touristen im Einsatz, unter anderem für Walbeobachtungen. Wie man hört ohne Probleme und sehr seetüchtig.