Von Normalität keine Spur – 100.000 Infizierte täglich? Das steckt hinter Drostens düsterem Pandemiebild im Sommer
22. Januar 2021Deutschlands Corona-Erklärer Nummer 1 hat das Virus immer ernst genommen, aber meist besonnene und beruhigende Worte gefunden. Jetzt malt er die Zukunft im Interview in düsteren Farben. Ein Warnschuss an alle, die schon von Lockerungen und einem normalen Leben im Sommer träumen.
Ende Januar liegt oft schon ein Hauch von Frühling in der Luft, ein Vorbote von warmen und sonnigen Tagen, die man bald wieder draußen verbringen möchte. Und mitten in diese schöne Vorstellung platzt Christian Drosten mit einem Interview im „Spiegel“, das geeignet ist, eine Pandemie-Depression auszulösen.
Kurz vor dem Wochenende schreckt der Charité-Virologe und Pandemieberater der Regierung die Nation auf, indem er ein düsteres Bild von der Pandemie in Frühling und Sommer malt: kein positiver Effekt durch Sonne und höhere Temperaturen, 100.000 Neuinfektionen pro Tag, falls Maßnahmen gelockert werden, ein positiver Impf-Effekt erst spät im Herbst.
Was ist passiert, dass der bisher eher besonnen Mahnende plötzlich ein so niederschmetterndes Bild der Pandemie in den kommenden Monaten zeichnet? Wurde bisher nicht immer betont, dass im Frühjahr alles besser wird, wenn sich erst mal die virenfreundliche Winterkälte verzogen hat? Und dass die Lockdown-Maßnahmen nur noch etwas Geduld und Durchhaltevermögen erfordern, bis sie Wirkung zeigen?
B.1.1.7 beunruhigt den Virologen heute mehr als vor Weihnachten
Vor Kurzem hatte Christian Drosten noch betont, dass er sich wegen der britischen Sars-CoV-2-Mutation keine großen Sorgen mache. Wir könnten immer noch verhindern, dass B.1.1.7 sich in Deutschland breit macht, seine höhere Infektiosität müsse sich erst noch erweisen.
Jetzt hat den Virologen eine neue Studie aus Oxford davon überzeugt, dass das Virus tatsächlich um 35 Prozent ansteckender ist, und das Ziel, die Infektionen überall in Deutschland unter eine Inzidenz von 50 pro 100.000 Einwohner zu drücken, in Gefahr bringt. Dass B.1.1.7 infektiöser ist als das Ursprungsvirus, hält Drosten für „gefährlicher, als wenn es tödlicher geworden wäre.“
Corona und kein Ende in Sicht? Drosten hat „schlimme Befürchtungen“
Was Drosten sagt, kann beruhigen – oder das Gegenteil bewirken
Christian Drosten ist der Experte für Coronaviren in Deutschland. Sein Wort hat Gewicht. Wenn er, wie kurz vor Weihnachten, im Zusammenhang mit der Briten-Mutation auf Twitter schreibt: „Das sieht leider nicht gut aus“, werden nicht nur die Manager der Pandemie im Kanzleramt und im Gesundheitsministerium nervös.
Drosten relativierte seine Aussage auch umgehend, ebenfalls auf Twitter: „Um den Spekulationen eine Ende zu bereiten: dies bezog sich allein auf den jetzt deutlicheren Beleg der verstärkten Verbreitung der Mutante.“ Er betonte gleichzeitig, dass sich an seiner zuvor geäußerten Einschätzung nichts geändert habe, er also nicht besonders beunruhigt sei. Und er schrieb: „Kontaktreduktion wirkt auch gegen die Verbreitung der Mutante“.
Christian Drosten war nie ein Verfechter schneller Lockerungen der Pandemie-Maßnahmen. Im Gegenteil: Er plädiert für weitreichende Schließungen, bis die Infektionsketten gebrochen sind. In seinem NDR-Podcast am 19. Januar meinte er, dass das Ziel aller Corona-Maßnahmen deshalb aus wissenschaftlicher Sicht lauten sollte, dass der R-Wert auf 0,7 kommt.
Eine Reihe von Virologen, Epidemiologen, Medizinstatistikern verfolgt die „Zero-Covid“-Strategie. Auch für Christian Drosten ist die Null letztlich das Ziel. „Ob man nun Anhänger einer Null-Covid-Strategie ist oder ob man sagt, der Sieben-Tage-Inzidenzwert müsse auf 50 sinken, damit die Gesundheitsämter wieder aktionsfähig werden: Der Weg dorthin ist derselbe“, sagt Drosten. Es gehe darum, „sehr stark zu bremsen und mit angezogener Bremse auch eine gewisse Zeit durchzuhalten“.