Sie berät Angela Merkel – Virologin Brinkmann skizziert Horror-Szenario: „Virus hat Raketenantrieb bekommen“

Sie berät Angela Merkel – Virologin Brinkmann skizziert Horror-Szenario: „Virus hat Raketenantrieb bekommen“

6. Februar 2021 Aus Von mvp-web

15:25:33
Wenige Tage vor dem nächsten Corona-Gipfel wächst in der Bundesregierung die Sorge vor einer Ausbreitung der ansteckenderen Virusmutationen. Ein Weg aus dem Lockdown könne deshalb nur mit viel Augenmaß geplant werden, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Freitag.

„Wenn wir diesen Mutationen die Möglichkeit zur Ausbreitung geben würden, riskierten wir einen erneuten Anstieg der Infektionszahlen.“ Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, warnte, das Virus sei zuletzt gefährlicher geworden. Mehrere Länder denken darüber nach, welche Lockerungen Priorität haben, sobald das Infektionsgeschehen solche Schritte zulässt.

Brinkmann warnt vor Lockerungen: „Das bedeutet letztlich eine Art Dauer-Lockdown“

Die Virologin Melanie Brinkmann warnte, dass auch bei einer Inzidenz von knapp unter 50 Lockerungen „fatal“ sein könnten. „Die Zahlen würden sofort wieder steigen. So eine Mittelinzidenz bedeutet letztlich eine Art Dauer-Lockdown, aus dem man nur zwischendurch mal kurz auftauchen und nach Luft schnappen kann“, sagte die Wissenschaftlerin vom Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung dem „Spiegel“. Bereits im Herbst habe die Politik zu spät reagiert, so Brinkmann, jetzt tue sie mit Blick auf die mutierten Varianten das Gleiche.

Nach Einschätzung des RKI dominieren die ansteckenderen Corona-Varianten das Infektionsgeschehen in Deutschland noch nicht, dürften aber in den kommenden Wochen eine immer größere Rolle spielen. In 13 der 16 Bundesländer sei die in Großbritannien entdeckte Variante B.1.1.7 bereits nachgewiesen worden. Ihr Anteil liege inzwischen bei knapp sechs Prozent. „Das Virus ist noch nicht müde“, betonte Wieler. „Im Gegenteil, es hat gerade nochmal einen Boost bekommen.“

Brinkmann fürchtet Mutante: „Das Virus hat einen Raketenantrieb bekommen“

Brinkmann teilt diese Einschätzung. „Für Virologen ist es nur noch eine Frage von wenigen Wochen, bis sie sich auch in Deutschland durchgesetzt haben“, sagt die Virologin dem „Spiegel“ und betont, was sie in einer Ministerpräsidentenkonferenz Im Januar betont habe. „Die Mutante aus Großbritannien und andere werden uns überrennen, das Virus hat einen Raketenantrieb bekommen. Es geht nur noch darum: Können wir den Siegeszug der Varianten hinauszögern, Zeit gewinnen?“

Dabei sei egal, ob die in Großbritannien entdeckte Mutante „um 30 oder 50 Prozent infektiöser ist. Selbst bei nur 30 Prozent haben wir eigentlich eine ganz neue Pandemie, draufgesattelt auf die bisherige. Die neue läuft sich sozusagen im Hintergrund gerade warm, ohne dass wir das schon klar erkennen können.“

Inzidenzwert 50 als Ziel? Brinkmann: „Für diese Zahl gibt es keine wissenschaftliche Basis“

Auch Gesundheitminister Spahn mahnte, der zuletzt mühsam erreichte Fortschritt bei den Infektionszahlen dürfe nicht leichtfertig verspielt werden. Die Sieben-Tage-Inzidenz, die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, war zuletzt bundesweit auf 79,9 gefallen. Ein Wert von 50 gilt als Schwelle, ab der die Gesundheitsämter die Infektionen wieder nachverfolgen können. Die Bundesregierung hatte diese Inzidenz zuletzt als Zielwert ausgegeben.

Virologin Brinkmann, die Bundeskanzlerin Angela Merkel berät, geht das nicht weit genug. „Im Kopf sind wir nie davon weggekommen, dass bis zur Inzidenz von 50 alles okay sei, unter Kontrolle. In Wahrheit gibt es für diese Zahl keine wissenschaftliche Basis – nicht einmal die 35 als Obergrenze ist wissenschaftlich fundiert“, warnt sie.

Brinkmann warnt vor aktuellen Zielen: „Mit diesem Kurs haben wir keine Chance“

Während im Oktober zahlreiche Ministerpräsidenten nicht mitspielten und „allein diese zwei Wochen Verzögerung bis Anfang November in den letzten drei Monaten etwa 30.000 Menschenleben gekostet“ haben, drohe das nun wieder. Doch diesmal geht ihr auch Merkels Kurs nicht weit genug. Dass die Kanzlerin am Dienstag verkündete, dass eine Inzidenz von unter 50 weiter das Ziel bleibe, sei schlimm. „Mit diesem Kurs haben wir keine Chance“, sagt Brinkmann via „Spiegel“.

Am Mittwoch will Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder erneut über das Infektionsgeschehen beraten. Dabei soll auch entschieden werden, ob der bis zum 14. Februar befristete Lockdown mit geschlossenen Schulen, Geschäften, Restaurants und Freizeiteinrichtungen verlängert wird oder ob wegen der sinkenden Infektionszahlen vorsichtige Öffnungsschritte eingeleitet werden können. Nach dem Treffen will Merkel die Beschlüsse in einer Regierungserklärung im Bundestag erläutern.

Derzeit ist die weitere Strategie nach Angaben der Kanzlerin noch offen. In einem Interview der Sender ntv und RTL warnte sie am Donnerstabend aber vor falschen Hoffnungen: „Ich sehe ein leichtes Licht am Ende des Tunnels, aber es ist eine unglaublich schwere Zeit.“

No-Covid als Lösung? „Bis Ostern könnten wir es geschafft haben“

Eine Möglichkeit, „mit der wir das bis Ostern geschafft haben könnten“ sei die No-Covid-Strategie, erklärt Brinkmann. Mit der ebenfalls oft genannten Zero-Covid-Strategie, deren Verfechter einen radikalen Umbau der Gesellschaft mit kompletter Lahmlegung der Wirtschaft erreichen wollen, habe diese „nur gemeinsam, dass wir auf die Null zusteuern wollen.“

Der Vorteil: Man könne immer damit anfangen und in sechs Wochen „durch sein, wenn wir im Lockdown blieben“. Brinkmann vergleicht das mit dem Abziehen eines Pflasters. „Was exponentiell steigt, kann auch exponentiell sinken. Bei einer R-Zahl von 0,9 dauert es einen Monat, bis sich die Zahlen halbieren, bei 0,7 nur eine Woche.“

Im selben Atemzug warnt die Virologin aber davor, noch länger zu warten und richtet den Blick nach Großbritannien. „Wenn wir allerdings noch vier Wochen warten, geht es hier demnächst zu wie in London, dann gibt es eine Tausender-Inzidenz, und alle sind ganz erschrocken.“ Brinkmann appelliert eindringlich, das zu vermeiden und nennt die Konsequenzen beim Namen. „Je später man anfängt, auf die Null zuzusteuern, desto mehr Tote haben wir, desto größer ist der wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Schaden. Und desto länger dauert es.“