Trügerische Sicherheit?
9. Februar 2021Stand: 09.02.2021 12:39 Uhr
Zahl der Neuinfektionen, R-Wert, Sieben-Tage-Inzidenz: Um die Entwicklung der Corona-Pandemie zu beurteilen, werden verschiedene Daten analysiert. Doch durch die Mutationen kommt eine gefährlich Unbekannte dazu
Von Patrick Gensing, Redaktion ARD-faktenfinder
Sollen die weitreichenden Einschränkungen in Deutschland zum Schutz gegen die Verbreitung der Corona-Pandemie gelockert werden? Falls ja, welche Maßnahmen zuerst aufheben? Und wann? Diese Fragen diskutieren Politik und Öffentlichkeit derzeit intensiv. Dabei stehen diverse Kennzahlen im Fokus.
Die Zahl der Neuinfektionen spielt weiterhin eine zentrale Rolle bei der Bewertung der Lage. Aus ihr ergeben sich die Sieben-Tage-Inzidenz auf 100.000 Einwohnern sowie der R-Wert, der angibt, wie viele weitere Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Die Faustregel: Liegt der R-Wert über eins, kann es zu einem exponentiellen Wachstum kommen; liegt er darunter, läuft die Pandemie aus. Je niedriger der Wert, desto schneller könnte die Pandemie theoretisch besiegt werden.
Zahl der Geimpften bislang kein Faktor
Weitere Kennzahlen, die zunehmend eine Rolle spielen: die Zahl der aktiven Covid-19-Fälle, also die derzeit Infizierten beziehungsweise Erkrankten, sowie die der geimpften Menschen. Letztgenannte ist in Deutschland noch kein relevanter Faktor angesichts von Impfquoten im niedrigen einstelligen Bereich.
Bei der Zahl der erkannten Infektionen muss zudem stets noch eine Dunkelziffer berücksichtigt werden: So brach die Zahl der Testungen rund um die Weihnachtsfeiertage ein, Deutschland war quasi im Blindflug, was die Bewertung der neuen Maßnahmen betrifft.
Wird zu wenig getestet, steigt auch die Positivquote bei Testungen, was als Indiz für ein wachsendes Dunkelfeld gewertet wird. Mittlerweile ist diese Quote wieder gesunken und es hat sich gezeigt, dass die Sieben-Tage-Inzidenz seit den Maßnahmen Mitte Dezember (Schließung von Einzelhandel und Schulen, strengere Kontaktregelungen für Erwachsene und ab dem 10. Januar auch für Kinder) massiv gesunken ist.
Zehntausende Todesopfer
Bisweilen wird auch auf die Zahl der freien Intensivbetten verwiesen, um die Corona-Lage zu beurteilen. Allerdings nützt dieser Wert nichts, wenn es darum geht, frühzeitig ein starkes Wachstum von Infektionen zu bremsen. Die starke Belegung mit Covid-19-Patienten ist vielmehr ein starkes Indiz dafür, dass ein Wachstum nicht gestoppt werden konnte.
Ähnlich verhält es sich mit der Zahl der Todesopfer, die in den vergangenen Wochen sehr hoch in Deutschland liegt. Bislang sind mehr als 60.000 Corona-infizierte Menschen gestorben, die meisten davon seit dem Herbst, nachdem die Infektionszahlen stark gewachsen waren, die Politik aber zunächst auf Maßnahmen wie eine Sperrstunde setzte, obwohl wissenschaftliche Belege für deren Wirkung fehlten.
R-Wert trotz Lockdowns über eins
Die derzeitigen Maßnahmen waren also offenkundig wirksam, um die extrem hohen Infektionszahlen in Deutschland zu senken. Unklar ist allerdings, welche Rolle die Mutationen dabei spielen. Möglicherweise wäre der Rückgang ohne die neuen Coronaviren noch weit stärker gewesen ohne die Mutationen.
Dänemark analysiert die Verbreitung der britischen Virusvariante genau und kommt zu dem Schluss, dass der Anteil der Mutationen Anfang März bei 80 Prozent der Neuinfektionen liegen könnte. Zwar liegt der gesamte R-Wert in dem Land unter eins, doch Dänemark berechnet auch den R-Wert für die Mutation B.1.1.7 – und dieser liege kontinuierlich über eins, so das zuständige staatliche Institut, zuletzt sogar bei 1,14 – trotz der bereits geltenden massiven Einschränkungen.
Das heißt: Die derzeitigen Lockdown-Regelungen reichen diesen Berechnungen zufolge nicht, um die Ausbreitung der Mutation zu bremsen. Daher warnen Fachleute vor einer ähnlichen Entwicklung in Deutschland wie zuvor in Irland oder Großbritannien, wo sich die mutierten Viren massiv ausgebreitet haben. Neben der Sorge vor der Variante B.1.1.7 aus Großbritannien kommt noch die südafrikanische Mutation B.1.5.1. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt daher vor einer dritten Welle durch einen „Turbo-Coronavirus“.
Mühsame Sequenzierung
Dazu kommt: Deutschland sequenziert erst seit Mitte Januar positive Corona-Testergebnisse, um die Verbreitung der Mutationen nachvollziehen zu können. Das Robert Koch-Institut vermeldete zuletzt einen Anteil von sechs Prozent, in Baden-Württemberg sollen es sogar bereits mehr als elf sein.
Trügerische Zahlen
Sinkende Infektionszahlen allein können in der derzeitigen Lage also trügerisch sein. Dies stellt die Politik vor ein Dilemma, denn die geltenden Schutzmaßnahmen basieren auf den Erfahrungen mit dem bisher bekannten Coronavirus. Die selben Maßnahmen sind aber mutmaßlich nicht ausreichend, um ein starkes Wachstum der mutierten Viren zu verhindern. Insbesondere im Hinblick auf die diskutierten Lockerungen könnte sich so schnell ein rasantes Wachstum ergeben.