Zahlreiche Seiten geschwärzt: Wie es wirklich zur Lockdown-Strategie der Bundesregierung kam
11. Februar 202115:23:12
Der Lockdown könnte noch Monate dauern. Eine Gruppe Rechtsanwälte zwang die Bundesregierung, Daten zur Entscheidungsgrundlage dafür herauszugeben. Die Regierungsstrategie fokussiert sich längst nicht mehr auf eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems.
Bei solchen Worten läuft es einem kalt den Rücken herunter: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. (…) Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“ Diese drastischen Beschreibungen stammen aus dem Strategiepapier „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“ des Bundesinnenministeriums (BMI). Es sorgte bereits im Frühjahr 2020 für Schlagzeilen – und jetzt für ein Nachspiel.
„Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“
Wie zuerst die „Welt“ berichtete, haben nämlich Juristen unter Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz die Herausgabe der Korrespondenz unter anderem mit dem Robert-Koch-Institut (RKI) erstritten. Aus der lässt sich entnehmen, wie wissenschaftliche Expertise zur Rechtfertigung politischer Maßnahmen herangezogen werden sollte: „Im E-Mail-Wechsel bittet etwa der Staatssekretär im Innenministerium, Markus Kerber, die angeschriebenen Forscher, ein Modell zu erarbeiten, auf dessen Basis ‚Maßnahmen präventiver und repressiver Natur‘ geplant werden könnten“, berichtet die „Welt“.
Etwa die Hälfte der Seiten der vom RKI herausgegebenen Unterlagen sind allerdings vollständig geschwärzt, berichtet der Datenschutz-Rechtler Professor Niko Härting, der zusammen mit anderen Juristen den Schriftwechsel einklagte. Darunter auch „Unterlagen zur Eindämmung durch Aufklärungs-und Mobilisierungskampagnen“. Es stellt sich die Frage, warum Behörden und Ministerien bei diesen Auskünften mauern. Wer sich mit dem Papier und seiner Entstehungsgeschichte befasst, entdeckt in der Tat Versuche der Einflussnahme – aber nicht nur vonseiten der Politik auf Experten. Es finden sich auch Hinweise für die andere Richtung: Schon vor über einem Jahr versuchten Wissenschaftler, für die umstrittene „NoCovid“-Bewegung zu werben. Und dabei handelte es sich nicht einmal um Virologen, Epidemiologen oder Mediziner. Mehr dazu später.
Wenn Politik Wissenschaft beeinflusst – und umgekehrt
Das berühmte BMI-Papier, das im Frühjahr 2020 zuerst von einigen Medien geleakt und dann vom BMI veröffentlicht wurde, war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Einige Prognosen darin erwiesen sich als zutreffend, andere nicht. So wurden zum Beispiel die negativen Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft als deutlich dramatischer eingeschätzt, als sie sich nach mittlerweile einem Jahr Corona gezeigt haben; selbst wenn man zugesteht, dass einige künftige Folgen durch verlängerte Kurzarbeiter-Regelungen und die Aussetzung der Insolvenz-Anmeldepflicht nur überdeckt werden.
Horror-Prognose: 1,2 Millionen Tote ohne Lockdown
Eine geradezu spektakuläre Fehlprognose im Papier war die „Worst Case“-Annahme, dass bei einer Nicht-Umsetzung der hammerharten Lockdown-Strategie in Deutschland mehr als eine Million Menschen sterben würden – und zwar bis Ende Mai 2020 (!). Nach Informationen von FOCUS Online war es maßgeblich dieses Szenario, das die Bundes- und Landesregierungen quasi widerspruchslos zustimmen ließ, das öffentliche Leben in Deutschland komplett stillzulegen und die größten Grundrechts-Eingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik in quasi einer einzigen Bundestags-Sitzung zu beschließen. Unausgesprochen wirkt die Drohkulisse dieses Szenarios offensichtlich noch heute. Der Abgeordnete einer Regierungspartei sagte gegenüber FOCUS Online: „Wenn man Maßnahmen infrage stellt, kommt oft die Gegenfrage: ‚Willst du etwa Menschen sterben lassen?‘ Es ist schwer, auf solch einer Basis sachlich zu argumentieren.“
Schweden und sein Sonderweg
Während man im April angesichts der Horror-Bilder aus dem italienischen Bergamo – die freilich nicht stellvertretend waren für die Situation in ganz Italien – und auch entsprechenden Bildern aus China die Entscheidungen für den totalen Lockdown womöglich noch ohne vorherige Abwägung vertreten konnte, musste schon wenige Monate später klar sein, dass zumindest die Horror-Prognose nicht eingetreten war – und zwar auch ohne Lockdown. Das beste Beispiel dafür ist immer noch Schweden, dessen angeblich gescheiterte Corona-Strategie ohne Lockdown im internationale Vergleich bislang zu Todeszahlen geführt hat, die weder besonders hoch noch besonders niedrig sind.
Nach der Logik des BMI-Papiers hätte aber in Schweden ohne Lockdown – es herrscht in dem skandinavischen Land trotz einiger Eindämmungs-Maßnahmen und Verhaltensregeln nicht einmal überall Maskenpflicht und die Schulen blieben weitgehend geöffnet – ein apokalyptisches Szenario mit hunderttausenden Toten eintreten müssen. Selbst wenn man den „schwedischen Sonderweg“ auch kritisch betrachten kann und dort – ähnlich übrigens wie in Deutschland – fehlender Schutz der Seniorenheime zu vielen Todesfällen führte, hätte der Bundesregierung schnell klar sein müssen: Die Prognosen und Szenarien, mit denen wir operieren, sind nicht zuverlässig. Das oft ins Feld geführte Präventationsparadoxon wurde durch den Länder-Vergleich widerlegt: Maßnahmen und Verlauf der Pandemie haben eben keinen klar beweisbaren Zusammenhang. Schweden ist nicht das einzig Beispiel dafür, dass eine Lockdown-Strategie jedenfalls nicht alternativlos ist. Die Mediziner Thomas Voshaar und Dieter Köhler und der Physiker Gerhard Scheuch führen in einem Gastbeitrag für FOCUS Online Beispiele aus den USA auf, die einen fehlenden Kausalzusammenhang zwischen Lockdown-Maßnahmen und Infektions- oder Todeszahlen zeigen. Wobei die meisten Experten, auch Voshaar, Scheuch und Köhler, keineswegs einen weitgehenden „Laissez Faire“-Ansatz wie Schweden empfehlen, sondern eher einen Mittelweg.
„Ein gewisses Underreporting“
Dass aber trotz der im BMI kursierenden Fehlprognosen noch immer an einer Lockdown-Strategie festgehalten wird, zeigt, das sich die Bundesregierung eher an einem anderen Beispiel orientiert: China. Denn die konsequente Abriegelung ganzer Städte inklusive totaler Einschränkung der Bewegungsfreiheit gilt weltweit als Erfolgsmodell, auch wenn Beispiele wie Südkorea oder Japan zeigen, dass niedrige Corona-Zahlen keineswegs nur in undemokratischen und unfreien Staaten wie China und auch gänzlich ohne solche Maßnahmen erreicht werden. Dabei halfen moderne Formen der Infektions-Nachverfolgung. Weitere Gründe dafür lassen sich vermuten – etwa eine andere Sozialstruktur, in der private Treffen mit andern Familien einfach nicht so oft stattfinden wie beispielsweise im geselligen Südeuropa.
Bei China allerdings bleibt offen, inwieweit man den Zahlen wirklich trauen kann. Gegenüber FOCUS Online bemerkte ein hochrangiger Mitarbeiter des RKI, dass man im Zusammenhang mit dem Land ein gewisses „Underreporting“ gewohnt sei – mit anderen Worten: Ob Infizierten- und Todeszahlen wirklich so ultra-niedrig sind wie von Chinas Staatsregierung berichtet, ist offen.
Hunderte Seiten geschwärzt – und das Wort „China“
Dass eine Eindämmung des Virus in China dennoch deutlich schneller gelang als in vielen anderen Ländern, lässt sich nicht bestreiten. Die konsequente Einhaltung der Maskenpflicht in allen öffentlich genutzten Innenräumen vom ersten Tag an dürfte dabei eine Rolle gespielt haben.
Entsprechend neidisch schaut man aus vielen Ländern gen Osten. Deutlich aussprechen will man das in Berlin aber nicht. Rechtsanwalt Niko Härting, der die Herausgabe des Mailverkehrs zwischen dem BMI und den Experten erstritt, stellte zu seiner Verwunderung fest, dass hunderte Seiten der Antwort mit der Begründung, es würden Aspekte der nationalen Sicherheit berührt, geschwärzt wurden. „Mehr als 100-mal wurden die Worte ‚China‘ oder ‚chinesisch‘ geschwärzt“, so Härting im Gespräch mit FOCUS Online.