Umstrittenes Corona-Instrument: RKI-Daten zeigen: Nur Knallhart-Ausgangssperren bringen wirklich etwas
5. April 202114:21:17
Pandemieexperten wie Karl Lauterbach und Klaus Stöhr fordern Ausgangssperren, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. Eine RKI-Analyse zeigt jedoch: Von 20 Uhr bis 5 Uhr morgens daheim zu bleiben, bringt wenig. Wie hart Ausgangssperren sein müssten, um effektiv Ansteckungen zu vermeiden.
Da die Infektionszahlen in Deutschland trotz Lockdowns nicht sinken, sprechen sich immer mehr Experten für einen großflächigen Einsatz weiteres Corona-Instrument aus: Die nächtliche Ausgangssperre.
Die Idee: Menschen dürfen ab einer bestimmten Uhrzeit, etwa ab 20 Uhr oder 22 Uhr nicht mehr das Haus verlassen. Ausgenommen sind triftige Gründe, etwa, mit dem Hund Gassi zu gehen. Erst in den frühen Morgenstunden, etwa ab 5 Uhr ist das Verbot aufgehoben. Damit sollen abendliche Treffen unterbunden, Kontakte reduziert und somit Ansteckungen vermieden werden.
Experten fordern nächtliche Ausgangssperre
Dieses Vorgehen habe sich laut SPD-Gesundheitsexperte etwa in Großbritannien bewährt. Die Ausgangssperre, bevorzugt nach 20 Uhr habe sich „bei der Bekämpfung von B.1.1.7, der Mutation, mit der wir hier ringen, als wirksam erwiesen“, sagt er der „Welt“.
Auch Epidemiologe und Virologe Klaus Stöhr sprach sich bereits für Ausgangsbeschränkungen aus. Da die meisten Infektionen innerhalb von Familien erfolgten, wären tiefergreifende Corona-Maßnahmen dort am ehesten erfolgreich, sagte er im Podcast „Die Wochentester“ des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und „Redaktions-Netzwerks Deutschland (RND)“. „Man möchte die heiße Kartoffel nicht anfassen, in die Familien einzugreifen. In Frankreich hat man es gemacht. Wenn man tatsächlich kausal arbeiten würde, müsste man diese unliebsame Ausgangsbeschränkung nochmal erwägen und vielleicht auch besser kommunizieren.“
RKI-Daten: Nur 7,4 Prozent der Bewegungen finden nachts statt
Doch ganz so einfach ist es nicht. In dem Maße, wie etwa Lauterbach die Ausgangssperre vorschlägt, wird sie nur wenig bringen. Denn wie Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) und der Humboldt-Universität Berlin zeigen, findet offenbar nur ein kleiner Teil der Begegnungen in dem angepeilten Zeitraum statt.
Die Wissenschaftler untersuchen im Rahmen des „Covid-19-Mobility-Project“ Bewegungsströme in Deutschland, die auf Basis von Mobilfunkdaten erhoben wurden und ziehen somit Rückschlüsse auf das Verhalten der Bevölkerung. Denn weniger Mobilität bedeutet in der Regel auch weniger Kontakte – und somit weniger Infektionen. An der Forschungsgruppe ist unter anderem RKI-Physiker Dirk Brockmann beteiligt.
Das Fazit der Wissenschaftler ist ernüchternd. „Man sieht, dass ein relativ geringer Anteil der Mobilität (7,4 Prozent) in den Zeitraum von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr fällt, welcher oft für die Anwendung einer Ausgangssperre diskutiert wird“, schreiben die Wissenschaftler des „Covid-19-Mobility-Project“. „Wenn der Zeitraum ausgeweitet wird auf beispielsweise 20:00 Uhr bis 5:00 Uhr steigt der betroffene Anteil der Mobilität geringfügig auf 12,3 Prozent“.
Begegnungen werden nicht vermieden, sondern finden früher statt
Der Großteil der Begegnungen würde also weiterhin stattfinden. Zu beachten gilt laut den Forschern außerdem, „dass bei einer Ausgangssperre nicht 100 Prozent der Bewegungen im Zeitraum der Sperre wegfallen“. Selbst während der Nacht dürfte bei triftigem Grund das Haus verlassen werden.
Zudem gebe es vermutlich Ausweicheffekte. Unternehmungen würden dann einfach auf einen Zeitraum außerhalb der Ausgangssperren verlagert werden. Damit könnte die nächtliche Ausgangssperre sogar dazu führen, dass sich etwa an Bahnhöfen oder beim Einkaufen erst recht Menschen zu bestimmten Uhrzeiten ansammeln, da sie weniger Möglichkeiten haben, sich auf verschieden Uhrzeiten zu verteilen.
Diese Ansicht ist auch Virologe Martin Stürmer. „Wenn wir Begegnungen zwischen 20 und 5 Uhr verhindern, bringt das kaum etwas. Es finden ja abends ohnehin keine Veranstaltungen statt. Das einzige, was passiert, sind private Treffen – und die werden in den meisten Fällen dann eben einfach vorgezogen“, sagte er im Gespräch mit FOCUS Online.
Ausgangssperre ist effektiv – aber nur, wenn sie konsequent umgesetzt wird
Den Vorschlag der nächtlichen Ausgangsperre, den auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach machte, befürwortet Stürmer also nicht. „Eine Ausgangssperre ist ein sehr aggressives, aber effektives Mittel, um die Infektionen zu kontrollieren“, räumt der Leiter eines Frankfurter Labors für interdisziplinäre Medizin und Diagnostik ein. Aber: „Wenn wir härtere Maßnahmen wie die Ausgangssperre umsetzen, dann müssen wir das auch konsequent tun. Wir sollten am besten dort hinschauen, wo es funktioniert hat – und dieses Konzept dann hier umsetzen“, so der Virologe.
In Großbritannien und Irland hatten Personen nur noch aus triftigem Grund das Haus verlassen dürfen, den ganzen Tag über. „Sofern das in Deutschland rechtlich genauso möglich ist, und davon gehe ich aus, würde ich das hier zu den gleichen Konditionen umsetzen.“
Deutsche bewegen sich mehr als im Vorjahr
Die Analyse von RKI und HU zeigt außerdem: Die Deutschen haben ihre Bewegungen zwar im Vergleich zu vor der Pandemie reduziert – allerdings deutlich weniger, als noch im ersten Lockdown. „Man sieht, dass besonders mitten im Tag die Mobilität zum Höhepunkt des ersten Lockdowns im März 2020 deutlich geringer war als im März 2021“, schreiben die Forscher.